Miteinander

„Die Besuche bei meiner Mutter sind so anstrengend!“

„Meine Mutter ist vor einiger Zeit mit 81 Jahren ins Altenheim gezogen. Sie woll­te das von sich aus. Als Familie waren wir sehr froh darüber, denn sie konnte die alltäglichen Aufgaben alleine nicht mehr bewältigen. Wir besuchen sie regel­mässig, vor allem ich als Tochter gehe so häufig wie möglich hin. In letzter Zeit wurden die Besuche immer schwieriger. Meine Mutter dominiert alles, denn sie redet ununterbrochen. Und jedes Mal, wenn ich aufbrechen muss, wirft sie mir vor, dass ich schon wieder gehe. Mich belastet dies zunehmend. Ich ertappe mich, wie ich mir Gründe überlege, um nicht hingehen zu müssen; doch ich möchte meine Mutter nicht im Stich lassen. Ich weiss nicht, was ich machen soll!“
Im Miteinander von alten Eltern und ihren Kindern, die sie jetzt versorgen, können ver­schiedene Probleme auftreten.

Die Besuche bei Ihrer Mutter kosten Sie viel Kraft. Einerseits möchten Sie ihr im Alter beistehen, andererseits setzen Sie die Verhaltensweisen Ihrer Mutter zunehmend unter Druck.

1. Zusammenhänge verstehen lernen

Durch zunehmende Gebrechen und den Wechsel ins Altenheim hat Ihre Mutter viele Möglichkeiten eingebüsst, ihr Leben zu gestalten. Durch diese altersbedingte Hilfsbedürftigkeit gewinnt Ihre Mutter unbeabsichtigt eine ge­wisse Macht über Sie, da sie vermehrt auf Sie als Tochter angewiesen ist. Vielleicht versucht Ihre Mutter, durch ihre dominante Verhaltensweise die ver­lorenen Einflussmöglichkeiten ein Stück weit zurückzugewinnen. Für Sie als Tochter ist dies aber sehr belastend und provoziert in Ihnen den Wunsch, sich dieser Machtausübung zu entziehen.

2. Eigene Souveränität gewinnen

In solchen Situationen kann die Gefahr bestehen, in eine Dynamik von Aggression und Rückzug zu geraten, wenn Sie mit Ihrer Mutter „klare Verhältnisse” schaffen und sich ihren Ansprüchen gegenüber verteidigen wol­len. Hilfreicher wäre eine Haltung der Souveränität. Souveränität heisst, bewusst anzuerkennen, dass die Hilfsbedürftigkeit Ihrer Mutter einen nur zeit­lich begrenzten Einfluss auf Sie hat - eben so lange, wie Sie bei ihr sind. Akzeptieren Sie zum Beispiel, dass es für Ihre Mutter immer schwierig ist, wenn Sie nach Ihrem Besuch wieder gehen und sie dies mit entsprechenden Vorwürfen, aggressiven Gefühlen oder auch mit einer Haltung der Hilflosigkeit ausdrückt.

3. Das Erzählbedürfnis annehmen

Prüfen Sie, welche Bedeutung das viele Reden Ihrer Mutter haben könnte. Erzählt sie, um Sie im Grunde wie früher zu belehren? Dadurch geraten Sie als Zuhörerin in die Rolle des „kleinen Mädchens” von damals. Gegen diesen Druck möchte man sich am liebsten wehren. Hilfreicher ist es jedoch, wenn Sie dies als einen Bewältigungsversuch der Hilflosigkeit auf der Seite Ihrer Mutter anerkennen. Denken Sie daran: Dies dauert nur so lange, wie Sie zu Besuch bei ihr sind!

Erzählt sie, um ihr eigenes Leben zu legitimieren? Dann können sich sol­che Erzählungen ständig wiederholen. Es hilft wenig, wenn Sie Ihre Mutter beschwichtigen wollen; sie erlebt dann nur, dass Sie als ihre Tochter sie nicht verstehen. Dadurch redet sie womöglich noch mehr. Hilfreicher ist es, zuzuhören und geduldig zu bleiben. Dann besteht die Chance, dass sich das Thema erschöpft und über anderes gesprochen werden kann.

Erzählt sie, um das eigene Leben besser zu verarbeiten und zu verstehen? Was sie noch nicht „auf die Reihe bringt”, wo sie noch keinen Sinn erkennt, bewegt sie auch emotional stark. Durch das Erzählen kann sie Ereignisse besser in Worte fassen. Hier ist es hilfreich, wenn Sie behutsam nachfragen. So helfen Sie mit, dem Erlebten eine Gestalt zu geben. Ihre Mutter kann dadurch Altes leich­ter loslassen.

Alt gegen Jung?

Im Miteinander von alten Eltern und ihren Kindern, die sie jetzt versorgen, können ver­schiedene Probleme auftreten. Verdeutlicht man sich, welche Verluste an Einfluss und Bedeutung das Alter für viele Menschen mit sich bringt, wird manches Verhalten ver­ständlich. Selbst wenn Eltern es nicht aus Absicht tun, kann ihre Hilflosigkeit oftmals einen unangenehmen Einfluss oder Macht auf die Kinder ausüben. Die Freizeit wird bestimmt von der Pflege. Urlaubsplanungen sind nur noch eingeschränkt möglich usw. Hier bedarf es seitens der Kinder viel Geduld, vor allem der Souveränität und des nötigen zeitli­chen Ausgleichs, um sich durch schöne Erlebnisse zu entspannen.

Manche Probleme entstehen auch dadurch, dass sich die alten Eltern mit den „lieben” Enkeln über die Köpfe der Eltern dieser Enkel hinweg (unbewusst) verbünden. Solche Eltern fühlen sich nicht selten in der Zange und resignieren vor der mächtigen Position ihrer Kinder. Bis zur Enterbung können die Drohungen der Grosseltern reichen. Hier ist es wichtig, je nach Alter der Kinder diese Emp­findungen ihnen gegenüber offen anzuspre­chen und sich bewusst von dem finanziellen Druck durch das mögliche ausbleibende Erbe freizumachen.

Datum: 21.05.2007
Autor: Wilfried Veeser
Quelle: Neues Leben

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