Die Kunst der richtigen Frage
Sommerfest in unserem Garten: Meine Frau hat den Mitarbeiterkreis eingeladen, den sie leitet. Sie steht am Grill und teilt Gebratenes aus. Und dann greift sie zu ihrer Bibel und gibt noch eine Ermutigung weiter. Ausgesucht hat sie den Satz von Paulus: «Seid fest, unerschütterlich, allezeit überreich in dem Werk des Herrn, da ihr wisst, dass eure Mühe im Herrn nicht vergeblich ist!» (1. Korinther Kapitel 15, Vers 58). Ja, dass wir nicht vergeblich arbeiten, ist eine starke Ermutigung. Wie begründet Paulus diesen Zuspruch? Damit, dass Jesus von den Toten auferstanden ist – davon handelt das ganze Kapitel 15, über 50 Verse lang. Ein hochkarätiges Thema der christlichen Lehre. So weit holt Paulus aus, um uns zu ermutigen. So hoch bindet er seinen Zuspruch an – damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mutlos werden.
In ihrer kleinen Andacht hat meine Frau einen überraschenden Zusammenhang wahrgenommen: Einerseits der gewichtige Inhalt des Kapitels, und andererseits die Schlussfolgerung am Ende. Seltsam. Hat Paulus etwa seitenweise über die Auferstehung geschrieben, nur um müde Mitarbeiter zu ermutigen? Sicher nicht nur. Zweifellos ist das Thema «Auferstehung» auch sonst zentral. Aber Paulus hatte durchaus eine bestimmte Fragestellung vor Augen: Was ist mit der Sorge, dass unsere Arbeit vergeblich sein könnte? Mit dieser Frage konnte meine Frau das ganze Kapitel erschliessen.
Zwei Schlüsselfragen
Was sie hier angewandt hat, ist eine Methode, die auf viele Bibeltexte passt, um deren Sinn auf die Spur zu kommen. Der Schlüssel liegt darin, die passenden Fragen zu finden:
Auf welche Frage will dieser Bibelabschnitt antworten?
Auf welche Frage kann dieser Bibelabschnitt antworten?
Diese beiden Fragen haben einen doppelten Effekt: Zum einen helfen sie, die Zielaussage eines Bibelabschnitts zu entdecken. Sie tragen also dazu bei, dass die Bibel in dem, was sie selbst sagen will, zur Geltung kommt. Und zum anderen machen sie klar, warum und wie die Bibel auch heute noch relevant ist. Denn die Frage, auf die ein Bibelabschnitt antworten kann, ist in vielen Fällen eine moderne und absolut zeitgemässe Frage.
Dabei ist es wichtig, die beiden Fragen nicht zu vermischen. Viele Bibeltexte haben in sich eine Aussageabsicht. Sie wollen auf bestimmte Fragen eingehen. Darüber hinaus gibt es heutige Fragen, für die der betreffende Text ebenfalls aussagekräftig ist. Solche heutigen Fragen stecken nicht schon im Text drin, aber er ist dennoch ergiebig. Nur sollten wir nicht versuchen, dem Text unsere Fragen aufzudrücken. Daher empfiehlt es sich, die beiden Fragen nacheinander zu betrachten: Was «will» der Abschnitt von sich aus? Und was «kann» er ausserdem noch?
Dieser Artikel geht zunächst der ersten Fragestellung nach.
Offenkundige Antworten
Beginnen wir also mit der ersten Frage: Was wird gerade beantwortet durch das, was ich lese? Welche Frage steckt erkennbar im Bibeltext drin? Bei einigen Texten ist das offenkundig. Das Thema wird eigens genannt. So ist es beim Gleichnis von der bittenden Witwe (Lukas Kapitel 18, Verse 2-8). Einleitend wird gesagt, worauf Jesus mit diesem Gleichnis hinauswollte: nämlich dass man stetig beten und dabei nicht ermüden soll (Kapitel 18, Vers 1). Die Frage lautet also: Wie kommen wir zur Ausdauer im Gebet? Antwort: Indem wir uns klarmachen, dass Gott allein schon auf Hartnäckigkeit reagieren möchte.
Auch andere Gleichnisse haben eine klare Themenbestimmung – so zum Beispiel die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lukas Kapitel 15 (verlorenes Schaf, verlorene Münze, verlorene Söhne). Eingeleitet wird dieser Abschnitt damit, dass Jesus kritisiert wurde, weil er sich mit Sündern an einen Tisch setzte. Die Frage dahinter: Muss man sich als Glaubender von Sündern fernhalten oder im Gegenteil ihre Nähe suchen? Jesus begründete mit den Gleichnissen, warum er ihre Nähe suchte. Einfach zu bestimmen ist auch die Frage, die hinter dem Vaterunser steht. Wie sollen oder können wir beten (Lukas Kapitel 11, Vers 1)? Nach dem Muster des Vaterunsers (Kapitel 11, Verse 2-4).
Manchmal steht eine Frage betont am Schluss. So ist es im Jonabuch. Gott selbst fragt, ob er denn etwa nicht betrübt sein sollte, wenn eine grosse Zahl von Menschen fern von ihm bleibt und ins Verderben rennt (Jona Kapitel 4, Vers 11). Das ganze Jonabuch antwortet auf die Frage nach Gottes Barmherzigkeit – und dieser Barmherzigkeit sollen wir Menschen (angefangen mit Jona) uns anschliessen.
Diese Fragen herauszufinden hilft, dass wir die Bibel nicht an ihrer eigenen Absicht vorbei lesen.
Verborgenere Fragen
Manche Fragen stecken zwar in den Texten, sie liegen aber nicht so klar an der Oberfläche. Hier müssen wir genauer hinschauen. Einfach ist das noch bei solchen Texten, die ein durchgehendes Thema haben. In der Bergpredigt geht es über weite Strecken um Geld und Besitz (Matthäus Kapitel 6, Verse 19-34). Die Frage dahinter ist: Wie kommen wir mit unseren Sorgen klar? Das Stichwort «Sorge» ist mehrfach in diese Worte von Jesus eingewoben (Kapitel 6, Verse 25.27.28.31.34). Antwort: Mit unseren Sorgen kommen wir nicht klar, wenn wir Geld ansammeln, sondern wenn wir unserem Vater im Himmel vertrauen und uns um sein Reich kümmern.
Das Thema, das im ganzen Ersten Petrusbrief eingewoben ist, lautet: Leidensbereitschaft. Druck, Ausgrenzung, Verfolgung werden kommen, sie gehören zum Christsein, und dieser Brief hat denjenigen Menschen am meisten zu sagen, die solche Erfahrungen machen. Ganz klar – auch abgesehen von Verfolgungssituationen können wir viel aus dem Brief ziehen. Aber die Hauptfrage ist die der Leidensbereitschaft. Indem wir diese Frage identifizieren, erleben wir, wie die Bibel uns ihre Themen stellt. Genauso soll es ja sein – nicht dass wir nur unsere Themen an Gottes Wort herantragen, sondern dass Gottes Wort seine Themen setzt.
Auch grosse Erzählbögen können um eine bestimmte Frage herum angeordnet sein. Die beiden Königebücher schildern die Geschichte Israels; sehr bald ist es die Geschichte der beiden getrennten Reiche Israel (im Norden) und Juda (im Süden). Wir bekommen erzählt, dass das Nordreich irgendwann von der Bildfläche verschwand und dass Jahrhunderte später auch das Südreich besetzt und viele Bewohner verschleppt wurden. Wie konnte es dazu kommen? Genau diese Frage beantworten diese biblischen Bücher. Damit ist klar, dass viele Etappen auf diesem Weg (in all ihrer Grausamkeit und mit allen Seltsamkeiten) nicht etwa nach Gottes Plan liefen, sondern Meilensteine auf dem Weg ins Elend waren.
Tief unter die Oberfläche tauchen
Und dann gibt es noch Texte, deren Fragestellung ziemlich tief unter der Oberfläche liegt. Man wird diese Texte oft nicht auf eine einzelne Frage zurückführen können, aber dennoch lohnt sich die Suche.
Nehmen wir als Beispiel die drei Kapitel, die vom Wahrsager Bileam handeln (4. Mose Kapitel 22–24). Er wurde angeheuert, um Israel zu verfluchen, konnte jedoch nichts anderes als es zu segnen. Die verborgene Frage dahinter scheint mir zu sein: Hält Gott seinem Volk die Treue? Den Segensworten Bileams zufolge kann die Antwort nur «Ja» lauten. Das allerdings ist keine Selbstverständlichkeit, wie uns der Zusammenhang zeigt. Der Weg Israels ins versprochene Land war bis hierher eine einzige Abfolge von Meckern, Murren und Auflehnung. Mindestens zehn solcher Episoden werden erzählt (von 2. Mose Kapitel 14 an). Und im Erzählfaden der Bibel ist auch das wuchtige 26. Kapitel aus dem 3. Mosebuch schon drangekommen, wo Elend und Strafe in riesiger Menge angedroht werden, wenn Israel Gott untreu wird. (In der Sprache des Parallel-Kapitels 5. Mose 28 sind das Flüche – das, was Bileam aussprechen soll.) Die Frage liegt also durchaus auf der Hand, ob Gott seinem Volk noch treu sein wird. Die Antwort der Bileam-Erzählung: Ja, auch jetzt noch!
Der Prophet Hosea gibt im 6. Kapitel seines Buches ein Gebet der Umkehr und Busse wieder. Allerdings scheint das ein sehr oberflächliches Gebet zu sein, wie Gottes Reaktion klar macht (Kapitel 6, Verse 4-6). Es fehlt ja auch jedes Schuldbekenntnis. Die Frage lautet also: Wie sieht echte Umkehr und tiefe Busse aus? Das Gebet Hosea 6,Verse 1-3 wirft diese Frage auf – und das Gebet in Kapitel 14, Verse 3-4 ist ein Muster für echte Umkehr, enthält also die Antwort. Der Blick auf den grösseren Zusammenhang ist es, der die zugrundeliegende Frage zeigen kann.
Die Witwe – ein kniffliger Fall
Das nächste Beispiel zeigt ebenfalls, dass der Blick auf den Zusammenhang wegweisend sein kann. Es steht zugleich dafür, dass die Frage, die im Text steckt, vielleicht gar nicht so eindeutig zu bestimmen ist. Gehen wir zu der Szene mit Jesus und der armen Witwe (Lukas Kapitel 21, Verse 1-4). Jesus sitzt auf dem Tempelgelände und beobachtet, wie viele reiche Geber etwas in den Spendenkasten legen – und wie eine Witwe nur zwei kleine Münzen einwirft. Nach Jesus hat sie aber mehr gegeben als die Reichen, nämlich ihren kompletten Lebensunterhalt.
Auf welche Frage antwortet dieser kleine Bericht? Die weit verbreitete Auslegung besagt: Diese arme Witwe ist ein Vorbild. Die Reichen haben aus ihrem Überfluss nur das Bisschen gegeben, das ihnen nicht wehtat. Die Witwe dagegen hat alles geopfert. Wie gross muss ihr Gottvertrauen gewesen sein und wie gross ihre Hingabe! Diese Auslegung hat gute Gründe für sich. Das Thema Arm und Reich ist ein Hauptthema bei Lukas im Evangelium und in der Apostelgeschichte. Immer wieder zeigt er, dass Wohlhabende viel Geld gespendet haben und spenden sollen. Und wie beschämend ist es, wenn sie es nicht tun – wo doch sogar eine arme Witwe buchstäblich alles spendet. Die Frage wäre demnach: Wie viel muss man als Glaubender für Arme geben? Und die Antwort der Erzählung (die gut in die Theologie des Lukas passt) heisst: am besten sehr viel.
Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit. E. Randolph Richards und Brandon J. O’Brien machen in ihrem Buch «Mit den Augen der Apostel» darauf aufmerksam. Sie schauen auf den Kontext, und zwar auf den unmittelbar benachbarten. Direkt vor dem Bericht über die Witwe kritisiert Jesus die Schriftgelehrten, die «die Häuser der Witwen verschlingen» (Lukas Kapitel 20, Vers 47). Man nimmt an, dass sich die Schriftgelehrten den Rechtsbeistand für Witwen (zu) teuer bezahlen liessen. Und kurz danach sagt Jesus, dass vom prächtigen Tempel bald kein Stein auf dem anderen bleiben werde (Kapitel 21, Vers 6) – von dem Tempel, dessen Pracht auch durch die Opfergaben der Armen bezahlt wurde! Die Witwe, die ihre zwei Münzen spendet, ist in diesem Zusammenhang kein Vorbild, sondern ist der Raffgier der Reichen zum Opfer gefallen. Sie wurde ausgenutzt von Frommen, die mit religiösen Apellen Spendengelder lockermachen. Das wäre eine massive Kritik an reichen Heuchlern – eine Aussage, die ebenfalls gut in die Theologie von Lukas passt. Welche Frage steckt nach dieser Auslegung in der Erzählung von der Witwe? Vielleicht diese: Wie kommt es, dass es eigentlich so viele Arme gibt?
Finde die richtige Frage
Zum Glück sind nicht alle Bibeltexte so knifflig. Bei vielen finden wir eine klare Spur, wenn wir die zugrundeliegende Frage suchen. Haben wir sie verstanden, dann kommen viele Bibelabschnitte noch mehr zum Leuchten. Es kann also zu unserer Angewohnheit werden, beim Bibellesen zu fragen: Worauf antwortet das, was ich gerade lese?
Und was ist mit den Fragen, die nicht direkt im Text stecken, die wir aber haben? Fragen, die damals noch niemand stellen konnte, die uns heute aber beschäftigen?
Auch solche Fragen sind ein wertvoller Schlüssel, um die Aussagekraft der Bibel zu erfahren. Mehr dazu im zweiten Teil dieses Beitrags, der bald hier bei Livenet erscheinen wird.
Ähnliche Impulse gibt es im Magazin Faszination Bibel. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
Zum Thema:
Was ist mir wichtig?: Die elementarste Frage im Leben klären
Influencer Nr. 1: Fragen, die Jesus uns stellt
Auswendig lernen?: Wie Bibeltexte zu einer Oase werden können
Datum: 02.10.2025
Autor:
Ulrich Wendel
Quelle:
Magazin Faszination Bibel 03/2025, SCM Bundes-Verlag