Wo Gottes Geist in Bewegung bringt
Als Bibelkenner denken wir beim Wort «Geist» sofort an den «Heiligen Geist». Wir kennen ihn als die dritte Person des dreieinen Gottes, die aber neben Gott, dem Vater, und Jesus, dem Sohn, oft seltsam blass und vage bleibt. Wer näher hinschaut, stellt fest, dass der Heilige Geist als eine Person der Trinität in der Bibel gar nicht auftaucht. Dieses Konzept wurde erst im 4. Jahrhundert nach Christus auf verschiedenen Konzilien so definiert, wie wir es heute kennen. Dahinter stehen Vorstellungen und Bilder, die bis in die ersten Verse der Bibel zurückgehen. Deshalb schauen wir uns hier das hebräische Wort an, das unsere Bibeln meist mit «Geist» übersetzen: ruach. Was hörte ein Jude zur Zeit von Jesus, wenn vom «Geist», von ruach, die Rede war?
Überfliegen Sie doch einmal – vielleicht anhand einer Konkordanz – die entsprechenden Stellen im Alten Testament. Sie werden merken, ruach bezeichnet ganz unterschiedliche Dinge: den Wind und den Atem, die Gefühlswelt und die Antriebskraft des Menschen oder die Schöpferkraft des allmächtigen Gottes und sein Leben erhaltendes Wirken. An manchen Stellen lassen sich die Bedeutungen gar nicht scharf voneinander trennen, immer wieder gehen sie ineinander über. Im Deutschen brauchen wir also unterschiedliche Wörter, um ruach an den verschiedenen Stellen angemessen zu übersetzen. Spannend ist auch, dass ruach mal männlich, mal weiblich daherkommt. Als Wetterphänomen tritt ruach meist als «der» Wind oder «der» Sturm auf, in allen anderen Fällen ist sie fast immer weiblich. Wir haben es also nicht mit einem Geist, sondern mit einer Geistin zu tun.
Startpunkt: Sinneswahrnehmung
Um die Bedeutung eines Wortes zu erfassen, ist es oft sinnvoll, auf der sinnlich wahrnehmbaren Ebene zu beginnen. Meist schwingt diese Ebene bei den anderen Bedeutungen noch mit. So bezeichnet ruach zunächst einfach die bewegte Luft, das Gefühl von Wind auf der Haut, die Erfahrung, dass ein Windstoss etwas bewegt und in Bewegung bringt. Hier wird ein für uns ungewohntes Merkmal der hebräischen Sprache deutlich: Sie will die Welt viel weniger abstrakt beschreiben und definieren, als wir das von unserer deutschen Sprache her kennen, die sich sehr um Präzision bemüht. Die hebräische Sprache geht dagegen von konkreter Erfahrung aus und bleibt daher oft vielschichtig und zum Teil sogar in sich widersprüchlich – wie das menschliche Leben selbst.
Auch der Atem ist bewegte Luft. Atmen Sie doch einmal tief ein und aus und spüren nach, wie der Atem Weite schafft und in Bewegung bringt. Atmen und Leben gehören untrennbar zusammen. Etwas Totes können wir nicht zum Atmen bringen – atmen zu können ist unserer Kontrolle entzogen, wie das Leben selbst. Es ist die ruach, die Geistkraft Gottes, die durch die materielle Schöpfung weht und Leben schafft – in der Natur als Ganze und in jedem einzelnen Menschen. Immer schwingt dabei die Wahrnehmung und Erfahrung einer Kraft mit, die Raum schafft und in Bewegung setzt – die Blätter der Bäume am Waldrand, die wilden Meereswellen oder einen Menschen, der zu neuen Unternehmungen aufbricht. In einer Vision des Propheten Hesekiel belebt die ruach Gottes sogar ein ganzes Heer von vertrockneten Gebeinen und schickt sie ins Leben zurück (Hesekiel Kapitel 37).
Ein Schöpfungs- und Geistpsalm
Im Psalm 104 finden wir alle drei beschriebenen Grundbedeutungen. Der Psalm preist Gott als den Schöpfer und Erhalter seiner Welt, dem selbst die stärksten Naturmächte dienen müssen. Er bewegt sich fort auf den Flügeln des Windes (Vers 3) und er macht die Winde (Vers 4) zu seinen Boten. Generell kann ruach für alle Arten von Wind stehen – vom sanften Hauch bis zum Sturm. Der Prediger sieht im Windhauch, der leise verweht, ein Bild für die Vergänglichkeit des Lebens (Prediger Kapitel 11, Vers 5) und der Dichter von Psalm 1 nutzt das Bild der Spreu, die vom Wind weggetragen wird, als Warnung vor dem Gericht Gottes (Vers 4). Denn was ohne Gottes Zutun getan wird, hat wie der vergehende Wind keine Substanz und keinen Bestand (Jesaja Kapitel 41, Vers 29). Ihm fehlt die ruach Gottes, seine Schöpferkraft, die seit Beginn der Schöpfung Leben erschafft und erhält.
In Vers 30 und 31 spricht der Dichter von Psalm 104 dann von der ruach des Menschen und der ruach Gottes: Wenn Gott die ruach des Menschen wegnimmt, stirbt dieser, wenn Gott seine ruach schickt, werden die Menschen geschaffen und die Erde wird erneuert. Die ruach des Menschen und die ruach Gottes scheinen miteinander verwoben zu sein und es wird deutlich, dass der Geist des Menschen nicht unabhängig vom Lebensgeist Gottes existieren kann. Wir Menschen sind jeden Augenblick darauf angewiesen, dass Gott das Leben in uns erhält, dass er unseren Atem in Gang hält und dass seine Kraft uns in Bewegung setzt und hält.
Antrieb und Befähigung
Wenn Gott einen Menschen für eine konkrete Aufgabe beruft, gibt er ihm häufig eine besondere Portion von seinem Geist, um ihn dafür auszurüsten (2. Mose Kapitel 35, Verse 30-31). Gott kann auch den Geist eines beliebigen Menschen dazu bewegen, in seinem Sinne zu handeln (2. Chronik Kapitel 36, Vers 22). Andererseits kann sich dieser besondere Geist Gottes aus einem Menschen wieder zurückziehen, wenn der Mensch im Misstrauen gegen Gott verharrt und seine Anweisungen wiederholt missachtet (1. Samuel Kapitel 16, Vers 14). Der Mensch ist also keine Marionette und die ruach des Menschen nicht einfach ein Stück von der ruach Gottes, das den Körper des Menschen wie eine fremde Macht bewohnt. Sie ist Gabe Gottes und zugleich integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit. Daher kann sie sowohl gute als auch schlechte Zustände, Eigenschaften und Absichten haben: Sie kann weise, gerecht und klug sein, aber auch eifersüchtig, unrein oder betrügerisch. Sie kann sich ändern, sogar zerbrechen, und von Gott erneuert werden. Nach einem schlimmen Fehltritt betet David, dass Gott ihm eine neue, beständige und willige ruach geben möge (Psalm 51, Verse 12.14). Am ehesten lässt sich die ruach des Menschen vielleicht als dessen aktive Lebenskraft beschreiben, die von Gott geschenkt ist, für deren Ausrichtung und Einsatz er aber selbst verantwortlich ist.
Heiligender Geist
Kurz vor seinem Tod versprach Jesus seinen Jüngern, dass er den Geist Gottes zu ihnen schicken würde – die ruach Gottes, die Leben schafft und das Erstarrte wieder in Bewegung bringt. Als der Heilige Geist an Pfingsten auf die versammelten Jünger fiel, erfüllte sich die grosse Hoffnung des Alten Testaments, dass Gott am Ende der Tage seine ruach auf alle Menschen ausgiessen würde (Joel Kapitel 3, Verse 1-5). Seitdem weht die ganze Fülle von Gottes ruach durch das Leben eines jeden Menschen, der sein Leben Jesus anvertraut. Ihre Kraft belebt und stärkt uns jeden Augenblick neu. Der Heilige Geist stattet uns mit allem aus, was wir brauchen, um in unserem ganz normalen Alltag heilige Menschen zu werden.
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Datum: 08.06.2025
Autor:
Beate Bittner
Quelle:
Magazin Faszination Bibel 02/2025, SCM Bundes-Verlag