Interview mit Jakob Thiessen

Was der STH-Rektor dem Ehepaar Hildebrand wünscht

Eine Gesellschaft, deren führende Persönlichkeiten nicht wahrhaftig sind, wird darunter leiden. Dies erklärt der Rektor der STH Basel, Jacob Thiessen, zur Affäre um den ehemaligen Nationalbank-Präsidenten Philipp Hildebrand.
Jacob Thiessen, Rektor der STH Basel

Was hat Sie als Theologe besonders bewegt im «Fall Hildebrand»?
Jacob Thiessen: Mich hat unter anderem beschäftigt, dass das Urteil vieler Personen in den Medien bereits klar kommuniziert wurde, bevor Einzelheiten bekannt waren. Manchmal hat man den Eindruck, dass es bei solchen Vor-Urteilen darum geht, sich selbst zu profilieren oder von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.

Waren die Nationalbank und ihr gefallener Präsident auch ein Thema für Ihre Studenten?

Zurzeit haben wir Semesterferien. Trotzdem gibt es ständig Studierende im Haus. Nach Aussagen eines Studenten haben sich die Studierenden auch per E-Mail darüber unterhalten. Ein Diskussionspunkt sei die Feststellung gewesen, dass sich unsere Gesellschaft immer mehr von der Schuldkultur weg zur Schamkultur entwickle. So nach dem Motto: «Man darf alles machen, es muss nur nicht publik werden.»

Welche Frage steht hier für Sie im Vordergrund?
Es stellt sich die Frage, nach welchen Massstäben unsere Gesell­schaft handelt und künftig han­deln wird, wenn nicht Jesus Christus das verbindliche Vorbild ist.

Frau Hildebrand hat auf dem Konto Ihres Mannes problematische Devisengeschäfte abgewickelt. Inwiefern kann ein Mann für das Handeln seiner Frau verantwortlich gemacht werden?

Die gleiche Frage müsste auch umgekehrt gestellt werden, wenn die Frau für das öffentliche Amt zuständig wäre. Was der Ehepartner oder die Ehepartnerin macht, ist in diesem konkreten Fall, in dem es auf beiden Seiten um das Geld geht, ohne Zweifel kein nebensächliches Thema.

Welche moralischen Ansprüche müssen für eine Führungskraft in dieser Position gelten?

Nach der Bibel ist Gott absolut wahrhaftig, und diese Wahrhaftigkeit ist auch der Massstab für die Menschen als «Ebenbild» Gottes. Jesus fordert sie in der Bergpredigt speziell von seinen Nachfolgern (Matthäus 5,37). Da leitende Personen mit ihrem Verhalten eine starke Vorbildfunktion haben (sollten), tragen sie diesbezüglich auch eine besondere Verantwortung. Wir können ja dankbar sein, dass unsere Gesellschaft doch immer noch ein gewisses Empfinden dafür hat.

Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn diesen Ansprüchen nicht Rechnung getragen wird?

In den alttestamentlichen Sprüchen lesen wir: «Gerechtigkeit erhöht eine Nation, aber Sünde ist die Schande der Völker.» (Sprüche 14,34) Und in Sprüche 25,5 wird ergänzt: «Man entferne den Gottlosen vom König, so steht sein Thron fest durch Gerechtigkeit.» Eine Gesellschaft, deren führende Persönlichkeiten nicht wahrhaftig sind, wird natürlich moralisch, aber auch gesellschaftlich und wirtschaftlich darunter leiden.

«Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein», sagt Jesus. Hätte auch Herr Hildebrand Gnade verdient?
Verdient hat wohl niemand von uns die Gnade, sonst wäre sie nicht Gnade. Wenn überhaupt jemand in unserer Gesellschaft die Gnade verdient hätte, dann sicher auch Herr Hildebrand. Er hat viel für unser Land geleistet, was jetzt nicht einfach weggewischt werden sollte. Doch er selbst hat gesagt, er habe zwar nicht als Mensch ein Problem, weil er mit sich im Reinen sei, aber er habe potenziell als Präsident des SNB-Direktoriums ein Problem. Man muss zwischen Amt und Person unterscheiden. Andererseits fragt man sich, ob Herr Hildebrand, wenn man ihn beim Wort nimmt, in diesem Fall überhaupt auf Gnade angewiesen ist. Gnade von Gott empfängt nach meinem Verständnis jemand, der sich bewusst ist, auf diese Gnade angewiesen zu sein (vergleiche Lukas 18,13f.). Ich denke auf jeden Fall, dass wir respektvoller miteinander umgehen sollten, auch dann, wenn Menschen Fehler machen.

Wie kann es nach einer derartigen Affäre gelingen, wieder Vertrauen in die Nationalbank und auch in die Politik zu gewinnen?

Indem die Situation glaubwürdig aufgearbeitet wird und indem man auf allen Seiten Fehler nicht nur soweit zugibt, wie man dazu gezwungen wird, wenn überhaupt. Als Christen haben wir einen grossen Vorteil, weil wir wissen, dass wir durch Jesus Christus gerechtfertigt werden und uns nicht selbst rechtfertigen müssen.

Was wünschen Sie Herrn Hildebrand und seiner Frau?

Ich wünsche ihnen persönlich und als Ehepaar, dass sie gestärkt aus dieser Situation herauskommen und den Mut haben, sich weiterhin für die Gesellschaft einzusetzen. Als Christen kennen wir die Vergebung. Und wer Vergebung erfahren hat, kann mit Gottes Hilfe auch unter schwierigen Erfahrungen einen Schlussstrich ziehen. Und er kann erfahrenes Unrecht vergeben.


Diesen Artikel hat uns freundlicherweise «Idea Spektrum Schweiz» zu Verfügung gestellt.

Zum Thema:
Gott oder Mammon? Kashya Hildebrand überrascht mit Zitat

Datum: 20.01.2012
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: Idea Spektrum Schweiz

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