Multikulturelle Gesellschaft

Schweizer Muslime und die Stimmung im Land

Im Alltag fallen die meisten Muslime kaum auf, aber sie werden doch als Gruppe mit Negativem in Verbindung gebracht und beargwöhnt. Eine wissenschaftliche Tagung in Bern ging den Spannungen nach, die sich im öffentlichen Umgang mit der nichtchristlichen Minderheit ergeben.
Islam-Fachtagung: «Die Grundstimmung gegenüber Muslimen hat geändert. Das ist nicht unbedenklich.»
Im Gespräch: Die Organisatoren Andreas Tunger-Zanetti und Samuel Behloul von der Uni Luzern mit den Genfer Muslimen Lucia Dahlab und Halim Grabus.

Die Fachtagung in Bern «Islam-Debatten: Schweiz – Europa» begann am 29. September 2011 mit dem öffentlichen Vortrag des Religionssoziologen José Casanova über «Islam in der europäischen Öffentlichkeit». Am 30. September folgten Kurzvorträge von in- und ausländischen Forschern (Islamfeindlichkeit, Konversion, öffentliche Wahrnehmung), am 1. Oktober drei Diskussionsrunden zur Entwicklung in der Schweiz. Insgesamt überwogen Aspekte der Integration, doch schienen die anhaltenden Besonderheiten der Muslime in Westeuropa ständig durch.

Konvertiten

Viel zu reden gegeben haben in den letzten Jahren Schweizer, die Muslime geworden sind und als Islamischer Zentralrat der Schweiz (IZRS) ihre Version des Islam zu Markte tragen. Doch sie sind nicht repräsentativ.

Petra Bleisch Bouzar (Fribourg) schilderte die Gedankenwelt einer Schweizerin, die von keltischer Religiosität fasziniert war, bei der Heirat mit einem Westafrikaner zum Islam konvertierte, sich als europäische Muslima versteht und Vorträgen eines libanesischen Scheichs folgt.

Laut Leon Moossavi (Leeds) sind in Grossbritannien Zehntausende zum Islam konvertiert und Tausende tun es jedes Jahr. Seine 37 Interviews hätten ergeben, dass Konvertiten sich verstärkt ums Land und das Los seiner Menschen sorgen. Sie seien loyale Bürger.

Österreich: Staatliche Anerkennung ist nicht alles

Die öffentliche Wahrnehmung des Islam hat sich im letzten Jahrzehnt stark verändert – und nicht nur durch den 11. September. Laut Farid Hafez (Wien) wurde der Islam infolge der Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ 1999 in Österreich zum innenpolitischen Reizthema.

Die Republik hatte die islamische Gemeinschaft 1979 förmlich anerkannt, basierend auf dem Islam-Gesetz von 1912. Ob dies heute politisch möglich wäre, wird angesichts anti-islamischer Parolen der Rechtsaussenparteien bezweifelt.

Zwei Öffentlichkeiten in der Schweiz

In der Schweiz gibt es laut Andreas Tunger-Zanetti «mindestens zwei Öffentlichkeiten», in denen Islamfragen debattiert werden. Neben jener der grossen Medien, Politiker und Experten stehe eine zweite Öffentlichkeit, medial kaum abgebildet, mit Exponenten wie Mark A. Gabriel und Avi Lipkin.

Vor der Minarettabstimmung hätten die Vertreter der klassischen Öffentlichkeit die Virulenz dieser zweiten Öffentlichkeit nicht bemerkt oder unterschätzt, meinte Tunger-Zanetti. Und: «Gesellschaftliche Anerkennung ist auch durch öffentlich-rechtliche Anerkennung nicht herzustellen, solange das grundlegende Problem nicht gelöst ist: Das Nebeneinander zweier unverbundener Öffentlichkeiten, zwischen denen es nicht nur an Übersetzern, sondern auch am Willen zur Verständigung fehlt.»

Anpassung woran?

Laut Mallory Schneuwly-Purdie (Lausanne) sind viele Schweizer bereit, Muslime einzeln zu integrieren, doch sehen sie sie zugleich als Teil einer grossen Gruppe, deren Integrationswille umstritten ist. Bei der Integration sei von Muslimen nicht Anpassung an die Schweizer Grundwerte zu fordern, sondern an ihre Umsetzung in unserer Geschichte, meinte Schneuwly.

«Demokratie kostet: Wir müssen bereit sein, den Preis dafür zu zahlen, dass alle mitreden können und ernstgenommen werden.» Prof. Reinhard Schulze (Bern) gab den anwesenden Fachleuten nüchtern zu bedenken, die gesellschaftliche Realität decke sich nicht mit ihren Erwartungen.

Viele Wünsche

Am Samstag, 1. Oktober 2011, wurden die Entwicklungen und Integrations-Debatten in der Schweiz beleuchtet. Wissenschaftler, Integrationsfachleute und hiesige Muslime widmeten sich in Podien den drei «Baustellen» Recht, Vertretung und Integration.

Mehrfach brachten Muslime die Kränkung durch das Minarettverbot zum Ausdruck. Als negative Folgen des Volksentscheids, der wie ein Schock wirkte, nannten sie eine Zunahme der Islamfeindlichkeit, die sich in mehr Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche äussere.

Rechtliche Forderungen wollten jene, die in Bern auftraten, nicht stellen. In Wunsch-Form genannt wurden eine hochstehende Imam-Ausbildung im Land, mehr muslimische Grabfelder, islamische Seelsorge in Gefängnissen und Armee, islamische Nischen in Altersheimen sowie Regelungen zur erleichterten Finanzierung von Moscheebauten.

Und die Scharia?

Rifaat Lenzin (Zürich) äusserte, heute würden Dinge gegen Muslime gesagt, die man, wären sie gegen Juden gerichtet, nicht hinnehmen würde. «Die Grundstimmung hat geändert. Das ist nicht unbedenklich.» Markus Klinkner (Zürich) fügte bei, die neuen islamophoben Äusserungen machten Muslimen im Blick auf die Zukunft Angst.

Die Scharia, das islamische Gesetz, kam kurz zur Sprache. Lenzin meinte, für eine (grundsätzlich mögliche) Anpassung der Scharia an westliche Verhältnisse brauche es Fachleute – und die seien Mangelware.

Das islamische Erbrecht stehe quer in der europäischen Landschaft. Gemäss islamischen Vorschriften hat der Mann, der eine Muslime heiratet, zum Islam zu konvertieren. Da sei, so Lenzin, von islamischen Gelehrten keine Änderung zu erwarten.


Datum: 04.10.2011
Autor: Peter Schmid

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