Schweizer Muslime und die Stimmung im Land
Die Fachtagung in Bern «Islam-Debatten: Schweiz – Europa» begann am 29. September 2011 mit dem öffentlichen Vortrag des Religionssoziologen José Casanova über «Islam in der europäischen Öffentlichkeit». Am 30. September folgten Kurzvorträge von in- und ausländischen Forschern (Islamfeindlichkeit, Konversion, öffentliche Wahrnehmung), am 1. Oktober drei Diskussionsrunden zur Entwicklung in der Schweiz. Insgesamt überwogen Aspekte der Integration, doch schienen die anhaltenden Besonderheiten der Muslime in Westeuropa ständig durch.
Konvertiten
Viel zu reden gegeben haben in den letzten Jahren Schweizer, die Muslime
geworden sind und als Islamischer Zentralrat der Schweiz (IZRS) ihre Version
des Islam zu Markte tragen. Doch sie sind nicht repräsentativ.
Petra Bleisch
Bouzar (Fribourg) schilderte die Gedankenwelt einer Schweizerin, die von
keltischer Religiosität fasziniert war, bei der Heirat mit einem Westafrikaner
zum Islam konvertierte, sich als europäische Muslima versteht und Vorträgen
eines libanesischen Scheichs folgt.
Laut Leon Moossavi (Leeds) sind in
Grossbritannien Zehntausende zum Islam konvertiert und Tausende tun es jedes
Jahr. Seine 37 Interviews hätten ergeben, dass Konvertiten sich verstärkt ums
Land und das Los seiner Menschen sorgen. Sie seien loyale Bürger.
Österreich: Staatliche Anerkennung ist nicht alles
Die öffentliche Wahrnehmung des Islam hat sich im letzten Jahrzehnt
stark verändert – und nicht nur durch den 11. September. Laut Farid Hafez
(Wien) wurde der Islam infolge der Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ
1999 in Österreich zum innenpolitischen Reizthema.
Die Republik hatte die
islamische Gemeinschaft 1979 förmlich anerkannt, basierend auf dem Islam-Gesetz
von 1912. Ob dies heute politisch möglich wäre, wird angesichts
anti-islamischer Parolen der Rechtsaussenparteien bezweifelt.
Zwei Öffentlichkeiten in der Schweiz
In der Schweiz gibt es laut Andreas Tunger-Zanetti «mindestens
zwei Öffentlichkeiten», in denen Islamfragen debattiert werden. Neben jener der
grossen Medien, Politiker und Experten stehe eine zweite Öffentlichkeit, medial
kaum abgebildet, mit Exponenten wie Mark A. Gabriel und Avi Lipkin.
Vor der
Minarettabstimmung hätten die Vertreter der klassischen Öffentlichkeit die
Virulenz dieser zweiten Öffentlichkeit nicht bemerkt oder unterschätzt, meinte
Tunger-Zanetti. Und: «Gesellschaftliche Anerkennung ist auch durch
öffentlich-rechtliche Anerkennung nicht herzustellen, solange das grundlegende
Problem nicht gelöst ist: Das Nebeneinander zweier unverbundener
Öffentlichkeiten, zwischen denen es nicht nur an Übersetzern, sondern auch am
Willen zur Verständigung fehlt.»
Anpassung woran?
Laut Mallory Schneuwly-Purdie (Lausanne) sind viele Schweizer bereit,
Muslime einzeln zu integrieren, doch sehen sie sie zugleich als Teil einer
grossen Gruppe, deren Integrationswille umstritten ist. Bei der Integration sei
von Muslimen nicht Anpassung an die Schweizer Grundwerte zu fordern, sondern an
ihre Umsetzung in unserer Geschichte, meinte Schneuwly.
«Demokratie kostet: Wir
müssen bereit sein, den Preis dafür zu zahlen, dass alle mitreden können und
ernstgenommen werden.» Prof. Reinhard Schulze (Bern) gab den anwesenden
Fachleuten nüchtern zu bedenken, die gesellschaftliche Realität decke sich
nicht mit ihren Erwartungen.
Viele Wünsche
Am Samstag, 1. Oktober 2011, wurden die Entwicklungen und
Integrations-Debatten in der Schweiz beleuchtet. Wissenschaftler,
Integrationsfachleute und hiesige Muslime widmeten sich in Podien den drei «Baustellen» Recht, Vertretung und Integration.
Mehrfach brachten Muslime die
Kränkung durch das Minarettverbot zum Ausdruck. Als negative Folgen des
Volksentscheids, der wie ein Schock wirkte, nannten sie eine Zunahme der
Islamfeindlichkeit, die sich in mehr Schwierigkeiten bei der Arbeits- und
Wohnungssuche äussere.
Rechtliche Forderungen wollten jene, die in Bern
auftraten, nicht stellen. In Wunsch-Form genannt wurden eine hochstehende
Imam-Ausbildung im Land, mehr muslimische Grabfelder, islamische Seelsorge in
Gefängnissen und Armee, islamische Nischen in Altersheimen sowie Regelungen zur
erleichterten Finanzierung von Moscheebauten.
Und die Scharia?
Rifaat Lenzin (Zürich) äusserte, heute würden Dinge gegen Muslime
gesagt, die man, wären sie gegen Juden gerichtet, nicht hinnehmen würde. «Die Grundstimmung hat geändert. Das ist nicht unbedenklich.» Markus
Klinkner (Zürich) fügte bei, die neuen islamophoben Äusserungen machten
Muslimen im Blick auf die Zukunft Angst.
Die Scharia, das islamische Gesetz,
kam kurz zur Sprache. Lenzin meinte, für eine (grundsätzlich mögliche)
Anpassung der Scharia an westliche Verhältnisse brauche es Fachleute – und die
seien Mangelware.
Das islamische Erbrecht stehe quer in der europäischen
Landschaft. Gemäss islamischen Vorschriften hat der Mann, der eine Muslime
heiratet, zum Islam zu konvertieren. Da sei, so Lenzin, von islamischen Gelehrten keine
Änderung zu erwarten.
Datum: 04.10.2011
Autor: Peter Schmid