Ältester bekannter Hymnus inspiriert neues Anbetungslied
Ein unscheinbares Papyrusfragment mit griechischer Schrift – Teil der sogenannten Oxyrhynchus-Papyri aus dem späten 3. Jahrhundert – enthält den ältesten überlieferten christlichen Hymnus, der sowohl Text als auch Notation umfasst.
Als der Historiker John Dickson auf diesen frühchristlichen Lobgesang stiess – deutlich älter als die gemeinhin als «früh» geltenden Gesänge aus dem 9. oder 10. Jahrhundert – war seine Neugier sofort geweckt. «Die Christen, die dieses Lied verfasst haben, wollten eine Musik schaffen, die ihre heidnisch geprägte Umwelt verstehen konnte», erklärt John Dickson. «Es ist gleichzeitig Anbetung und öffentlicher Ausdruck des Glaubens.»
Ein ungewöhnliches Projekt
Die Inspiration durch diesen alten Hymnus führte zu einem ungewöhnlichen Projekt: John Dickson kontaktierte Ben Fielding von «Hillsong», der ebenfalls Australier ist, um den Text für die heutige Gemeinde neu zu vertonen.
Daraus entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit dem Grammy-prämierten Worship-Musiker Chris Tomlin – mit dem Ergebnis eines neuen Liedes «The First Hymn» sowie eines begleitenden Dokumentarfilms über die Entdeckung und Erforschung des Papyrusfragments.
Obwohl Christen durch Psalmen und andere biblische Texte über Worte verfügen, die einst gesungen wurden, ist dieser Hymnus die nun älteste Überlieferung, die neben dem Text auch die Noten enthält – ein einzigartiger Einblick in den Klang frühchristlicher Gottesdienste.
Ehrfurcht vor der Schöpfung
«The First Hymn» greift zentrale Themen des ursprünglichen Liedes auf – etwa die Trinität und die Ehrfurcht vor der Schöpfung – und präsentiert sie in einer modernen musikalischen Sprache. Chris Tomlins melodisches Gespür für einfache, silbenbetonte Melodien sorgt dafür, dass das Lied sowohl solistisch als auch mit ganzer Band funktioniert.
In vielen Konfessionen wächst das Interesse an Liedern mit historischer Tiefe. Manche finden sie in orthodoxen oder anglikanischen Gemeinden, andere entdecken den Wert alter Hymnen neu.
Er spielte selbst in einer Rockband
«The First Hymn» ist Teil dieser «Ancient-Future»-Bewegung. «Ich bin skeptisch gegenüber Trends – auch gegenüber dem Trend, 'zurückzugehen'», sagt John Dickson. «Für mich ist das kein Zurückgehen, sondern ein Geschenk an die Kirche.»
John Dickson, heute Dozent am Wheaton College, lehrte zuvor in Australien, Grossbritannien und den USA biblische Sprachen, Theologie und klassische Altertumswissenschaft. In den 90er-Jahren war er zudem Sänger einer Rockband – die Verbindung von alten Texten und Musik begleitet ihn also schon lange.
Der Text vom neuen-alten Song
Das Fragment, das rund 35 griechische Wörter samt Melodie und Rhythmus bewahrt, ist wahrscheinlich der Schluss eines längeren Liedes. Der Text auf dem Fragment lautet (übersetzt):
Alle sollen schweigen:
Die leuchtenden Sterne sollen nicht klingen,
Alle rauschenden Flüsse verstummen,
Während wir unseren Hymnus singen
Dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.
Und alle Mächte antworten:
«Amen, amen.»
Macht, Lob und Ehre für immer unserem Gott,
Dem einzigen Spender aller guten Gaben.
Amen. Amen.
«‘Spender guter Gaben’ war ein Beiname des Zeus», merkt John Dickson an. «Aber der Autor nennt Gott den einzigen Spender aller guten Gaben – vielleicht ein bewusster Seitenhieb.»
Ähnlich wie Paulus in den Briefen
Der Hymnus scheint gezielt mit den religiösen Vorstellungen seiner Zeit zu kommunizieren – ähnlich wie Paulus es in seinen Briefen tat. Ein bekanntes Beispiel ist Paulus’ Zitat «Denn in ihm leben, weben und sind wir.» (Die Bibel, Apostelgeschichte Kapitel 17, Vers 28) – ursprünglich aus einem Zeus-Hymnus, von Paulus aber auf den Gott der Bibel bezogen.
Auch das Motiv des kosmischen Schweigens («Alle sollen schweigen») hätte im antiken Griechenland und Ägypten Anklang gefunden. «Das ist aus biblischer Sicht ungewöhnlich», sagt John Dickson. «Psalm 148 etwa ruft die ganze Schöpfung zur Anbetung auf. Schweigen statt Mitsingen ist eher ein heidnisches Bild.»
Fragment schon früher bestätigt
Während «The First Hymn» die erste populäre Adaption des Liedes darstellt, beschäftigen sich Wissenschaftler schon seit 1922 mit dem Fragment. Charles Cosgroves analysierte das Stück im Jahr 2011 ausführlich, betont aber auch die Herausforderungen: Zu selten ist vergleichbares Material erhalten, zu spezialisiert ist das Wissen um antike griechische Notation.
So blieb der Hymnus lange ein «Niemandsland» zwischen Musik- und Liturgiegeschichte. Umso bedeutsamer ist nun das Projekt von John Dickson, Ben Fielding und Chris Tomlin, welches das Lied aus der wissenschaftlichen Nische herausholt und für die breite Kirche zugänglich macht.
Öffentlich zugänglich
Gemeinden, die das Lied in ihren Gottesdiensten einsetzen möchten, finden auf Plattformen wie «MultiTracks» bereits Notenmaterial und Playback-Tracks – inklusive aller sechs E-Gitarren-Spuren und Begleitchor.
Musikalisch orientiert sich The First Hymn am typischen Sound moderner Worship-Musik: sanfte Synth-Flächen, klare Strophen-Refrain-Struktur und ein sich steigerndes Arrangement.
Obwohl der Text aus der Antike stammt, verzichtet die Produktion bewusst auf stilistische Klischees wie orientalische Tonleitern – Chris Tomlin und Ben Fielding haben den Text so angepasst, dass er sich mühelos in eine moderne Melodie einfügt.
Schatz aus der frühen Kirche
«Dieses Lied ist ein heiliger Schatz, der uns von der frühen Kirche überliefert wurde», sagt Chris Tomlin. «Heute, 1’800 Jahre später, stehen wir in einer langen Linie mutiger Gläubiger – und singen mit ihnen gemeinsam.»
Die Offenheit der frühen Christen, heidnische Vorstellungen aufzunehmen und sie zur Verkündigung christlicher Lehre zu nutzen – sogar so komplexer wie die Trinität – ist für John Dickson ein inspirierendes Beispiel: «Das Faszinierende daran ist: Es ist nichts Neues», sagt er. «Die Trinität – Gott in drei Personen – steht im Zentrum. Und hier ist der älteste Hymnus, den wir kennen, der uns genau daran erinnert.»
«The First Hymn» anhören:
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