In den Parlamenten der 26 Teilstaaten und des Bundesdistrikts Brasilia wuchsen die so genannten "Evangelicos" ebenfalls stark. Zusätzlich verwirrend für mitteleuropäische Politikbegriffe: Ausser in der winzigen, atheistischen Kommunistischen Partei sind diese religiöse Gruppierungen in allen 18 Kongressparteien vertreten, von links bis extrem rechts. Erstmals wurde sogar das Amt des Staatschefs angepeilt: Der gewiefte Populist Anthony Garotinho aus Rio de Janeiro kandidierte zwar offiziell im Namen der Sozialistischen Partei PSB für die Präsidentschaft, erhielt die über 15 Millionen Stimmen aber vor allem von "Evangelicos" der untersten Schichten. Im Wahlkampf attackierte Garotinho den aussichtsreichsten Präsidentenbewerber, Luis Inacio "Lula" da Silva von der Arbeiterpartei PT, härter als jeder andere Kandidat. Doch nun, vor der Stichwahl vom 27. Oktober, hat er sich überraschend zu dessen engem Bündnispartner gewandelt und hat, falls Lula gewinnt, ein Regierungsamt sicher. Seine Frau Rosinha regiert demnächst den Teilstaat Rio de Janeiro, nach Sao Paulo wirtschaftlich der zweitwichtigste Brasiliens. Viel enger noch steht zu Lula indessen die rechtsgerichtete PL (Partido Liberal), die von der "Universalkirche vom Reich Gottes" dominiert wird. Sie zählt zu den so genannten nicht-ökumenischen Pfingstkirchen. Gründer und grösster Wunderheiler der Nation ist der ehemalige Lotterieangestellte Edir Macedo. Er predigt den "spirituellen Krieg" und betont, dass jeder Mensch übernatürliche göttliche Kraft und Macht besitze und - falls Gott es denn so wolle, auch andere heilen könne wie er. Macedo drückte jetzt sogar die eigene Schwester in den Kongress, dazu seinen Neffen, "Bischof" Marcelo Crivella. Der setzte als erfolgreicher Sänger bereits mehr als vier Millionen CD's ab, tritt jeden Abend in einem reisserischen Programm von "TV Record" auf, das spektakuläre Verbrechen und andere Sensationen des Tages ausschlachtet. Der kommerzielle Fernsehsender der "Universalkirche" hat landesweit eine der höchsten Einschaltquoten; viele Radiosender und Druckereien sind im Privatbesitz von "Bischöfen". Die "Universalkirche" gehört demnächst, bei Lulas voraussichtlichem Sieg, mit zur Regierung, da die PL mit dem Milliardär José Alencar den Vizepräsidenten stellt. "Für die katholische Kirche ist all das extrem Besorgnis erregend", sagt der katholische Bischof Amaury Castanho aus Jundiai bei Sao Paulo. "Die Sekten führen einen regelrechten Kampf, um an die Macht zu kommen. Wegen ihres Fundamentalismus sind religiöse Konflikte voraussehbar." Den Kurswechsel von Präsidentschaftskandidat Lula nennt Castanho "tief enttäuschend". Sein Wahlkampf stehe "im Widerspruch zur gesamten Geschichte der Arbeiterpartei, die der Kirche stets nahe war, praktisch in ihrem Dunstkreis heranwuchs". Die Bischofskonferenz benutzt inzwischen nicht mehr den Begriff "Sekten", sondern spricht von "Kirchen", um einen Dialog zu ermöglichen. Doch gerade mit der "Universalkirche" gehe fast gar nichts, sagt Castanho und warnt: "Es sind Wolken am Horizont, die zu einem Gewittersturm werden können - wie in Nordirland."Gute Karten
"Religiöse Konflikte voraussehbar"
Datum: 23.10.2002
Quelle: Kipa