Seelsorgerin an Ukraine-Front

«Herr, sende mich dorthin, wo ich gebraucht werde»

Lyudmyla Marfin
Lyudmyla Marfin ist eine unscheinbare Frau, die in der Menge kaum auffällt – und doch tut sie etwas Aussergewöhnliches: Sie ist Seelsorgerin und besucht regelmässig die Front in der Ukraine.

In den Schützengräben im Osten der Ukraine ist die Anwesenheit einer christlichen Seelsorgerin nicht nur symbolisch, sondern lebenswichtig. Dort schläft der Artilleriebeschuss nie. Hier wird der Glaube nicht leise von der Kanzel gepredigt, sondern zwischen Schüssen gerufen, in Sterbegebeten geflüstert und mit jedem Schritt im Angesicht des Todes gelebt.

Das Evangelium wird nicht nur verkündet – es wird in den Kampf getragen, spendet den Verwundeten und Trauernden Trost und erinnert die Soldaten daran, dass Gott sie selbst im Krieg nicht verlassen hat.

Lyudmyla Marfin verkörpert nicht das Bild von körperlicher Stärke oder furchtloser Entschlossenheit, das man oft mit Frontsoldaten assoziiert. Doch ihre Augen beginnen zu leuchten, sobald sie über «ihre» Soldaten spricht. Liebe sei die treibende Kraft ihres Dienstes, sagt sie.

«Vira glaubt – und ihr solltet es auch»

Lyudmyla Marfin ist 52 Jahre alt und arbeitet ehrenamtlich als Seelsorgerin an der Front. In ihrer Heimatregion Winnyzja kümmert sie sich um 18 Kinder. Nebenbei studiert sie am Theologischen Seminar in Kiew und reist regelmässig in die Kampfgebiete, um humanitäre Hilfe zu leisten und geistlichen Beistand zu geben.

Ihr Funkrufname lautet «Vira», was auf Ukrainisch «Glaube» bedeutet. «An der Front kennt man mich als Vira. Ich scherze oft mit den Jungs: ‘Vira glaubt – und ihr solltet es auch.’»

Vira bedeutet auch «treu». «Die Bibel sagt: ‘Sei treu im Kleinen’ – das bedeutet, dass man genau da wirken soll, wo Gott einen hingestellt hat.»

18 Kinder zuhause

«Gottes Liebe erfüllte mein Herz, als ich mit 25 Jahren Jesus Christus als meinen persönlichen Erlöser annahm. Das hat auch meine Familie geprägt. Heute leben 18 Kinder bei uns – elf Jungen und sieben Mädchen. Jeder von ihnen hat eine andere Geschichte: Einige sind adoptiert, andere stehen unter Vormundschaft oder leben vorübergehend bei uns in Pflege», sagt Lyudmyla Marfin.

«Zusätzlich haben mein Mann und ich fünf leibliche Kinder, die mittlerweile erwachsen und ausgezogen sind. Gott hat uns aber berufen, auch Eltern für Kinder zu sein, die dringend eine Familie brauchen – so kam es zu unserer grossen Familie.»

«Herr, gebrauche mich»

«Als der Krieg begann, betete ich: ‘Herr, gebrauche mich.’ Wie viele andere auch, half ich zunächst mit Lebensmitteln und Medikamenten, die wir an die Front schickten oder selbst brachten. Nach und nach organisierte ich Trainings für Soldaten – sogenannte Teamtrainings. Für jene, die Kameraden verloren hatten, bot ich seelsorgerliche Gespräche an, besuchte Verwundete in Krankenhäusern und sprach mit ihren Familien», erinnert sich Lyudmyla Marfin.

Als freiwillige Seelsorgerin kümmert sie sich um die Seelen ihrer Mitmenschen. «Unser Ziel ist es, die Einstellung der Menschen zu ihren Umständen zu verändern – damit sie erkennen: Sie sind nicht allein. Ich kann nicht immer bei den Soldaten in den Gräben sein, aber Gott ist da. Wir wollen ihnen zeigen: Gott verlässt euch nicht. Ich spreche offen über meinen Glauben, dränge ihn aber niemandem auf. Ich frage keinen Soldaten, welcher Religion er angehört. Entscheidend ist, ob jemand das Gespräch sucht – der Glaube ist und bleibt Privatsache.»

«Ich diene Gott»

Lyudmyla Marfin sagt den Soldaten immer: «Ich dringe nicht in eure Seele ein. Ich diene Gott, indem ich den Menschen diene. Aber ich habe noch keinen Atheisten im Schützengraben getroffen. Der Krieg verändert die Einstellung zum Glauben. Man erwartet vielleicht sofortige Bekehrung – aber oft beginnt der Wandel schleichend: Die Herzen werden weicher, Gebete werden zugelassen, und irgendwann beginnen sie selbst zu beten und ihre Hoffnung auf Gott zu setzen.»

Sie gehe dorthin, wo die Soldaten sie rufen. «Die Entfernung zur Front ist mir egal. Manchmal weiss ich nicht einmal, wie nah der Feind ist – die Soldaten sagen es mir nicht. Ich bete einfach: ‘Herr, sende mich dorthin, wo ich gebraucht werde.’»

Sie versuche, überall positiv zu bleiben – denn die Soldaten beobachten genau, wie sie sich verhält. «Wenn ich vor Angst zittere, wie soll ich ihnen Mut machen?»

Die Hälfte ist gefallen

«Im letzten Sommer war ich in der Nähe von Bachmut im Einsatz», erinnert sich Lyudmyla Marfin. «Die Hälfte der Männer, die ich dort kennengelernt habe, ist inzwischen gefallen. Zwei davon waren mir besonders nah. Ein Soldat erzählte mir voller Liebe von seiner Frau und wollte mich ihr vorstellen. Als er vermisst wurde, rief sie mich an. Zwei Monate lang bangten wir gemeinsam – dann erfuhren wir, dass er in Soledar gefallen war. Ich war bei der Beerdigung und trauerte mit der Familie.»

Manchmal spielt sie auch Kurierin: «Ich kaufe Geschenke oder Blumen für ihre Liebsten und bringe sie persönlich vorbei.»

Während ihrer Reisen kümmert sich ihr Mann um die Kinder. «Er ist pensionierter Lehrer. Jeder an der Front weiss: Wenn mein Mann gegen eine Reise ist, bleibe ich zu Hause. Aber er versteht meine Berufung und übernimmt diese Last.»

«Wie kann ich nicht zurückkehren?»

Natürlich gibt es schwierige Augenblicke. «Es gab Momente, in denen ich dachte: Ich fahre nie wieder an die Front. Wenn ich Heimweh habe oder mein Leben nicht länger riskieren will. Aber dann schicken mir die Jungs eine leere Patronenhülse aus Bachmut – wie kann ich da nicht zurückkehren?»

Für Lyudmyla Marfin ist klar: «Ich helfe, wo ich kann, und reise durchs ganze Land. Für mich sind inzwischen alle Ukrainer meine Familie. Wenn Gott dich ruft, musst du gehen. Wenn er dein Herz mit Liebe füllt, dann liebst du auch die Menschen, zu denen du gesandt wirst.»

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Datum: 13.05.2025
Autor: Anna Gnatyshyna / Daniel Gerber
Quelle: CNE / gekürzte Übersetzung: Livenet

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