Kapitel 2 »Die Wolke, die euch droht,ergiesst bald Segen, euch zugut«

Geistige Umnachtung und geistliche Lieder im Leben William Cowpers

Eine Liebesaffäre mit der Dichtung

Es gibt mindestens drei Gründe, warum ich mich zur Lebensgeschichte des Dichters William Cowper (wird wie "Cooper" ausgesprochen) aus dem 18. Jahrhundert hingezogen fühle. Ein Grund ist, dass ich seit meinem 18. Lebensjahr - wahrscheinlich noch früher - die Macht der Dichtung gespürt habe.

Als ich kürzlich meine Ordner durchsah, fiel mir ein altes Exemplar von Leaves of Grass in die Hände, dem literarischen Studentenmagazin der Wade Hampton High School in Greenville, South Carolina. Es war eine Ausgabe aus dem Jahr 1964 - meinem Abschlussjahr. Ich las die Gedichte, die ich vor mehr als 35 Jahren für die Zeitschrift geschrieben hatte. Dann holte ich Kodon heraus, die literarische Zeitschrift aus den Tagen des Wheaton College, und ich erinnerte mich an das Gedicht "One of Many Lands", das ich in einem meiner freudlosen Momente als Studienanfänger geschrieben hatte. Als Nächstes zog ich aus dem muffigen Ordner der Erinnerungen ein Exemplar von The Opinion (1969) des Fuller Seminary mit dem Gedicht "For Perfect Eve" (mit ihr bin ich nun seit 32 Jahren verheiratet) heraus. Während meiner Lehrtätigkeit folgte dann 1976 eine Ausgabe des Coeval vom Bethel College mit dem Gedicht "Dusk". Mir fiel wieder auf, dass die Dichtung schon immer mein Freund gewesen war und immer noch ist. Ich schreibe Gedichte zu den Geburtstagen meiner Kinder und meiner Frau, zum Hochzeitstag und zum Muttertag. Seit fast zwanzig Jahren schreibe ich jedes Jahr Adventgedichte und lese sie von der Kanzel meiner lieben Gemeinde der Bethlehem Baptist Church vor.

Ein Grund dafür ist, dass ich mir ständig bewusst bin, wie sehr meine eigene kümmerliche Leidenschaft und die atemberaubende Wirklichkeit des Universums um mich herum - Himmel, Hölle, Schöpfung, Ewigkeit, Leben, Jesus Christus, Rechtfertigung durch den Glauben und Gott - auseinander liegen. Jeder von uns (ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht) versucht, diese Kluft zwischen unseren schwachen Gefühlen und dem Wunder der Welt zu schließen. Manche von uns machen das mit Dichten.

Auch William Cowper dichtete. Ich glaube, ich kann ihn verstehen, warum er ein Gedicht schreibt, als er nach 53 Jahren das Porträt seiner Mutter sieht. Sie starb, als er sechs Jahre alt war.

Und währed noch dies Hild des Kindes Schmerz erneut, Webt Phantasie ihn in ein sanft betörend Kleid.

Einfallsreichtum - das Bemühen, seine Gefühle in einem Gedicht auszudrücken - schenkt ihm angenehme, aber schmerzliche Befriedigung. Wir sind zutiefst erleichtert, wenn wir auf irgendeine Art die wunderbare Wirklichkeit erkennen, uns daran erfreuen und dann dieses Gefühl so ausdrücken, dass die Kluft zwischen unserem Verstand und dem, was unser Herz begreift, geschlossen wird. Es ist nicht erstaunlich, dass wahrscheinlich mehr als dreihundert Seiten der Bibel als Dichtung geschrieben wurden, weil die Bibel das grosse Ziel hat, eine Brücke zwischen der begeisterungslosen Taubheit des menschlichen Herzens und der unaussprechlichen Wirklichkeit des lebendigen Gottes zu bauen.

Fortsetzung: Standhaft im Leid

Datum: 04.03.2008
Autor: John Piper
Quelle: Standhaft im Leiden

Werbung
Livenet Service
Werbung