Gottes Wort in der Nacht
Vor und nach Jesu Geburt, bei seiner Flucht und Rückkehr aus Ägypten spielen Träume eine wichtige Rolle. Josef fühlt sich hintergangen und möchte die Beziehung zu seiner schwangeren Verlobten beenden, da das Kind nicht von ihm ist. Er wird sich wohl gefragt haben: Ja, wer bin ich denn? Ich kann das nicht glauben, was sie mir dazu erklärt. Verstört und ohne ein Wort des Abschieds will er sich heimlich davonmachen, denn es soll auch für Maria glimpflich ausgehen.
In dieser selbsterdachten Lösung träumt er, wie Gott ihn durch einen Engel mit «Josef, du Sohn Davids…», anspricht (Matthäus Kapitel 1, Vers 20). Dass er von königlicher Herkunft und edlem Geschlecht ist – Sohn Davids – , hatte er offenbar vergessen. Im Traum wird ihm bewusst gemacht, was er im Getriebe des Alltags übersieht und wie Gott ihn sieht. Träume zeigen die Seiten unseres Wesens, unserer Identität, die wir nicht so auf dem Schirm haben. Das ist die erste Aufgabe von Träumen: Verdrängtes, Vergessenes und das, was wir zu leben vermeiden, bewusst zu machen.
Träume für besondere Zeiten
Eine ähnliche Erfahrung machte der vor seiner Vergangenheit flüchtende Jakob. Ihm begegneten Gott und seine Engel im nächtlichen Traum und ihm macht Gott klar, dass er mit Jakob Grosses vorhat. Für ihn ist Jakob nicht nur ein listiger Betrüger und Lügner, sondern sein Erwählter.
In dieser Familie wird Träumen zur Tradition. Lieblingssohn Josef sieht seine zukünftige Entwicklung im Traum voraus. Seine Träume deuten an, dass er eine herausragende Stellung in dieser Familie übernehmen wird, die Jahre später der Rettung aller dient. So genannte «Individuationsträume» deuten zukünftige Lebensmöglichkeiten an. Besonders in Übergangsphasen und Reifungskrisen tauchen Träume auf, durch die Gott uns Menschen auf neue Gestaltungsformen der nächsten Lebensphase aufmerksam macht – die zweite Aufgabe von Träumen.
Zurück zur Weihnachtsgeschichte. Den weitgereisten Magiern, die dem Stern folgten und das Königskind anbeteten, begegnet Gott ebenfalls im Traum. Die Einzelheiten dieser Begegnung werden uns nicht überliefert, wohl aber die Wirkung ihrer Botschaft. Sie zogen «auf einem anderen Weg wieder in ihr Land.» (Matthäus Kapitel 2, Vers 12) Damit wird eine dritte Aufgabe von Träumen erkennbar. Träume setzen Impulse, damit wir unser Leben ändern. Der Lebensweg bekommt eine neue Wendung. Besonders Alp- und Wiederholungsträume weisen darauf hin, dass der Träumer bzw. die Träumerin z. B. seine Lebenseinstellung ändern sollte. Sie sind deshalb besonders wichtig.
Lösungen erträumen
Viele Träume haben einen Aufbau bzw. eine Dynamik, wie sie von dem antiken Theater bekannt ist. In der 1. Phase werden die Gegenstände auf die Bühne geräumt. In der 2. Phase beginnt die Handlung und nimmt ihren Lauf. In der 3. Phase, dem sogenannten Höhepunkt, spitzt sich die Dramatik zu, um dann schliesslich in der 4. Phase eine Lösung zu präsentieren (im Krimi beispielweise ist der Mörder identifiziert und wird abgeführt). Ein Alptraum nun bricht an Punkt 3 ab, d. h. es gibt im Traum keine Auflösung. Das Unbewusste hat nicht die Kraft, von sich aus eine Lösung zu schaffen. Ein Alptraum fordert daher die ihn Träumenden auf, sich eine Lösung zu erarbeiten, ggf. mit Hilfe anderer.
Die Weisheit im Alten Testament rechnete mit diesem nächtlichem Reden Gottes: «In Träumen, … wenn die Menschen in tiefen Schlaf fallen … dann öffnet Gott ihnen das Ohr. Dann schreckt er sie auf durch eine Warnung. Er will den Menschen von seinem Tun abbringen und ihn zwingen, seinen Hochmut abzulegen. Er will ihn vor dem Grab bewahren, damit er nicht in sein Verderben läuft.» (Hiob Kapitel 33, Verse 15 bis 18) Gott lässt nichts unversucht, um uns heilsam korrigierend ins Gewissen zu reden.
Das trifft auch auf Wiederholungsträume zu. Bei diesen können Szenen und Traumgestalten wechseln, die Traumdynamik aber bleibt die Gleiche. Der Träumer wird auf ein die Träume verbindendes und immer gleiches (Lebens-)Thema hingewiesen, damit er sich damit beschäftige. Alpträume und Wiederholungsträume sind deshalb ernst zu nehmen, weil sie wichtige Impulse zur Lebensgestaltung und zur Persönlichkeitsentwicklung präsentieren.
Zukunftshoffnung finden
Nicht nur zur biblischen Zeit sondern auch noch heute spricht Gott in Träumen. Pfarrerin Ulrike Menge hatte einen schweren Autounfall verursacht und lag einige Tage auf der Intensivstation. Sie erinnerte sich an eine schwarz-weiss-Szene aus der Kinderbibel, die Jesus mit einem seiner Jünger zeigt. Mit einem langen weissen Gewand bekleidet hält Jesus ein Blatt Papier in der Hand und liest. Der Jünger steht ihm gegenüber. Soweit der aktuelle biografische Hintergrund ihres nun folgenden Traumes: «Plötzlich bin ich der Jünger. Ich stehe da und schaue auf Jesus. Obwohl ich nicht sehen kann, was auf dem Blatt steht, weiss ich plötzlich ganz genau: Was Jesus jetzt liest, ist dein ganzes Leben. Da steht alles drauf, alles Gute, was war, aber auch aller Mist, den du schon angestellt hast. Und das liest der jetzt! Und wirklich, Jesus steht und liest – konzentriert und aufmerksam, er sagt kein Wort. Ich werde immer unruhiger, ich halte es kaum mehr aus, frage ich mich doch: Was denkt der denn jetzt über dich? Was wird er gleich sagen? Der weiss jetzt alles über dich. Und dann sehe ich: Auf einmal hat Jesus einen Stift in der Hand. Er nimmt diesen Stift und macht mit blauer Farbe ein grosses Kreuz über das Blatt. Er streicht nicht die Zeilen durch oder so – er macht wirklich ein grosses Kreuz darüber. Ich empfinde auch in diesem Moment: Es ist sein Kreuz. Dann wendet er sich zu mir, beugt sich herab, gibt mir das Blatt in die Hand und sagt zwei Sätze: Das ist jetzt alles vorbei. Fang dein Leben neu an.»
Pfarrerin Menge berichtete dazu: «Dieser Traum blieb unmittelbar und direkt in mir drin und führte mich durch die ganze kommende Zeit. Immer, wenn eine Herausforderung vor mir steht, höre ich diesen Satz: Fang dein Leben neu an! Und er gibt mir Kraft und die Gewissheit, dass es gut werden wird. Und ich habe mein Leben neu angefangen.»
Der Bedeutung auf die Spur kommen
Gott kann im Traum direkt mit eigener Stimme sprechen. Aber wie ist es mit Träumen, in denen er selbst nicht vorkommt? Kann er auch durch solche Träume – und das sind die meisten – sprechen? Das ist sehr wohl möglich. Es bedarf jedoch eines Umweges, um einen Traum als Gottes Ansprache zu erleben.
Grundsätzlich gilt bei Träumen: Der Traum als Ganzes, seine Teile, einzelne Szenen und Gegenstände, sogenannte Traumgestalten, machen Gefühle anschaulich. Emotionale Reste früherer oder aktueller Lebensereignisse hinterlassen Spuren in der Seele und verdichten sich zu nächtlichen Traumbildern und -szenen.
Zunächst geht es darum, den Sinn eines Traumes zu erfassen. Dabei werden Verbindungslinien zwischen dem Traum und Lebens- und Alltagsereignissen aufgespürt. Folgende Fragen helfen bei dieser Suche:
- Woher kenne ich das Gefühl im Traum oder beim Aufwachen noch aus meinem Leben?
- An was oder wen erinnern mich einzelne Traumgegenstände und Traumgestalten?
- Welche Ereignisse des vergangenen Tages klingen im Traum an?
- Was fällt mir zu dem Traum allgemein ein?
- Inwiefern zeigt sich im Traum, was ich im Alltag zu leben vermeide?
- Inwiefern zeigt der Traum, was oder wer ich noch sein kann?
- Welche Bezüge zu Film, Kunst, Literatur oder zu einer biblischen Geschichte fallen mir ein?
Brücken bauen zu Gottes Botschaft
Aus dem Erkennen von Zusammenhängen erwächst Verstehen, denn Sinn entsteht durch Zusammenhänge. Der Sinn eines Traumes lässt sich anhand von einer oder mehreren Brücken zwischen Traum und Biografie ermitteln. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit der Auslegung eines Bibeltextes. Dabei werden die Sachaussagen des Bibelabschnittes ebenfalls mittels bestimmter Fragen erfasst. Im betenden Nachsinnen kann der Bibeltext dann zur persönlichen Botschaft Gottes werden und darüber hinaus das Gehörte zur Botschaft an andere Menschen. Ist nun verstanden, was ein Traum für sich genommen sagen will, lässt sich weiter betend fragen, was Gott mir durch diesen Traum sagen möchte. Gerade dieser Umgang mit einem Traum macht deutlich, dass Gottes Stimme im Traum und das Traumgeschehen kein Gegensatz sind. Vielmehr benutzt Gott die emotional-bildhafte Sprache der Träume, um mir etwas zu sagen und mich auf einen Aspekt meines Lebens hinzuweisen.
Traum ist nicht gleich Prophetie
Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied bei diesem Vergleich zwischen Bibeltextauslegung und Traumauslegung. Traumbotschaften richten sich immer an die Träumerin bzw. den Träumer selbst, nicht an andere Menschen. Dieser Unterschied besteht auch zu Visionen. Sogenannte «Gesichte» bzw. Visionen enthalten meist Botschaften an andere Menschen, Träume eben nicht.
Wie ist in Gemeinden mit Träumen einzelner umzugehen? Zurückzuweisen ist m. E. wenn jemand sagt: «Ich habe heute Nacht von dir geträumt und habe daher eine Botschaft von Gott für dich (oder für die ganze Gemeinde).» Die Bibel selbst erhebt eine kritische Stimme im Blick auf die Verbindung zwischen Prophetie und Traum. «Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr.» (Jeremia Kapitel 23, Vers 28 | Luther)
In der gemeindlichen Seelsorge jedoch können Träume von kundigen Begleitern und Begleiterinnen einbezogen werden und dabei helfen, Ratsuchende und ihre Probleme besser zu verstehen. Sie offenbaren, was die Seele beschäftigt.
Manche Träume sind lediglich Symptome nächtlicher Hirntätigkeit zwecks Verarbeitung von alltäglichen Sinneseindrücken. Eine Suche nach Sinn lohnt sich nicht. Solche Träume aber, an die wir uns erinnern und die uns tagsüber und darüber hinaus länger beschäftigen, verdienen Beachtung. Denn Träume sind Ratgeber für die eigene Lebensgestaltung. In dieser Funktion haben sie damals wie heute eine hohe Bedeutung und verdienen daher Aufmerksamkeit. Tun wir uns den Gefallen und achten wir auf die stille und leicht überhörbare – direkte wie indirekte – Sprache Gottes im Vertrauen auf sein Bemühen um uns.
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Datum: 14.12.2025
Autor:
Ulrich Kühn
Quelle:
Magazin ChristseinHeute 12/2025, SCM Bundes-Verlag