«Auge wurde ich dem Blinden, und Fuss dem Lahmen war ich»
Während ich diese guten Worte von Hiob im Titel lese (siehe Hiob Kapitel 29, Vers 15), muss ich daran denken, wie ich einmal einem Lahmen ein Bein stellte. Ich war zwölf oder so und Hilfsorganist beim Gottesdienst für Behinderte in der grossen Behinderteneinrichtung, in der meine Mutter als Ärztin angestellt war.
Die betreffende Person lief so dicht vor mir an meinem Stuhl vorbei, dass es der eingeübte Reflex war, der mich den Fuss ausstrecken liess und die Person zum Stolpern brachte. Ich habe mich natürlich sofort bei ihr entschuldigt.
Schutzraum und die Sehnsucht nach Mehr
Mein Aufwachsen umgeben von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen habe ich in den meisten Teilen in guter Erinnerung. Wenn im Gottesdienst ein Lied angekündigt wurde, bildete sich an der Orgelbank eine Schlange von kindlichen Erwachsenen, denen ich beim Aufschlagen der Lieder half. Nach jedem Gottesdienst präsentierte mir ein geistig behinderter Heimbewohner stolz die neuesten Metallteile, die er in der Werkstatt für Behinderte hatte mitgehen lassen. (Die Mitarbeiter wussten natürlich Bescheid und sorgten für das «Recycling».)
In dieser Zeit, den 1980er-Jahren, lebten über 1000 Bewohner in der Einrichtung. Die Johannes-Anstalten Schwarzach waren eine Art von «safe space» für diese Menschen, die so sein konnten, wie sie waren, kindlich zufrieden, ohne von irgendjemandem schief angeschaut und verächtlich gemacht zu werden. Bei einigen der Heimbewohner, die weniger stark beeinträchtigt waren, konnte ich gelegentlich aber auch etwas anderes wahrnehmen: Die Sehnsucht, am normalen Leben teilzunehmen, Familie zu erleben, Teil von Gesellschaft zu sein. In den letzten Jahrzehnten sind Integration und Inklusion zum grossen Thema geworden, mit Vorteilen für die betroffenen Menschen, aber auch mit einigen Herausforderungen.
Wie Gott Menschen mit Behinderung sieht
Menschen mit Behinderungen sind auch ein Thema der Bibel. Hier das Wichtigste zuerst: Menschen mit Behinderungen sind Gottes Ebenbilder – wie alle anderen Menschen auch. Es gibt keine Abstufung in der Würde, die Gott jeder Person zuspricht. Auch Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen sind Stellvertreter Gottes auf Erden. Behinderung ist keine Strafe für Sünde. Dass es Behinderungen gibt, hat biblisch mit der Situation der gefallenen Schöpfung, mit der Gebrochenheit der Welt zu tun. Wir begegnen diesen Brüchen in unterschiedlicher Form in der Welt um uns herum, aber auch in uns selbst. Wir sind vor die Herausforderungen gestellt, in einer nicht perfekten Welt zu leben und gut miteinander umzugehen.
Dieses Anliegen verfolgen auch die alttestamentlichen Gesetzestexte, die einen fairen Umgang mit Menschen mit Behinderungen einfordern. In einem Kapitel, das Gottesliebe und Nächstenliebe zu einer Art Essenz biblischer Ethik kombiniert, heisst es: «Du sollst einem Tauben nicht fluchen und vor einen Blinden kein Hindernis legen, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der HERR.» (3. Mose Kapitel 19, Vers 4) In den zwölf Fluchsprüchen, die im Rahmen des Bundesschlusses von den Leviten über Israel ausgesprochen wurden, heisst es im vierten Fluchspruch: «Verflucht sei, wer einen Blinden auf dem Weg irreführt! Und das ganze Volk sage: Amen!» (5. Mose Kapitel 27, Vers 18) Wer die Schwächen anderer ausnutzt, handelt moralisch verwerflich. Das positive Ideal formuliert demgegenüber Hiob Kapitel 29, Vers 15: «Auge wurde ich dem Blinden, und Fuss dem Lahmen war ich!» Die Schwächen des anderen mitzutragen, ja auszugleichen, ist das Leitbild des Alten Testaments zum Umgang mit Behinderungen.
In den Erzähltexten der Bibel gibt der vorbildliche Umgang Davids mit Mefi-Boschet ein Beispiel. Mefi-Boschet (bzw. Merib-Baal), Enkel von König Saul und Sohn von Davids bestem Freund Jonathan, ist seit einem Unfall gelähmt, den er als Säugling während einer Flucht erlitt (2. Samuel Kapitel 4, Vers 4). David kümmert sich um ihn und nimmt ihn am Hof auf. Dies geschieht zwar nicht explizit wegen seiner Behinderung, sondern wegen Davids Versprechen, Jonathans Nachkommen zu verschonen (2. Samuel Kapitel 9, Verse 1–8). Gleichwohl zeigt die Geschichte, dass David in seinem Umfeld keinen Unterschied zwischen gesunden und eingeschränkt gesunden Menschen machte. Durch seine Fürsorge ermöglichte der König von Israel dem körperlich wie seelisch Beeinträchtigten Mefi-Boschet die Zugehörigkeit zum königlichen Haushalt und die Teilhabe am Leben der königlichen Familie, und erwies ihm damit eine besondere Würdigung und Wertschätzung, die bis heute vorbildlich wirkt.
Unreinheit und Gottes Versprechen
Das Zeugnis des Alten Testaments zum Thema ist damit allerdings noch nicht vollständig wiedergegeben. Wir müssen auch über einige abgrenzenden Aussagen sprechen. Im alttestamentlichen Reinheitsgesetz wird nämlich festgelegt: Wer eine körperliche Behinderung hat, darf keine priesterlichen Dienste ausführen (3. Mose Kapitel 21, Verse 16–23). Hinter dieser Vorschrift steht das damalige kultische Denken mit den Kategorien «rein», «unrein» und «heilig». Als kultisch rein galt der Normalzustand des Menschen. Ausflüsse, Hautkrankheiten, aber auch körperliche Fehlbildungen machten unrein. Gemäss dem kultischen Denken durfte das Unreine niemals mit dem Heiligen in Berührung kommen. Somit war der Priesterdienst für Menschen mit körperlichen Behinderungen ausgeschlossen.
Zu diesen Aussagen gibt es einen spannenden Twist innerhalb des Alten Testaments selbst. Das grosse Finale des Jesaja-Buches (Kapitel 56–66) eröffnet mit einem Abschnitt, in dem ein Ausländer und ein Eunuch – letzterer ein kultisch Unreiner – darüber traurig sind, dass sie niemals wirklich zur heiligen Gemeinde Israels gehören werden. Gott sagt beiden zu, dass sie in den Bund mit Gott eintreten dürfen, einen ewigen Namen erhalten – und sogar direkt in Gottes Tempel ihren Platz bekommen (Jesaja Kapitel 56, Verse 1–8).
Der Neuanfang, den Gott seinem Volk schenken wird, gilt nicht nur für die Gesunden und Starken, sondern, wie Jeremia schreibt: «Siehe, ich bringe sie herbei aus dem Land des Nordens und sammle sie von dem äussersten Ende der Erde, unter ihnen Blinde und Lahme, Schwangere und Gebärende, sie alle zusammen; als eine grosse Versammlung kehren sie hierher zurück.» (Jeremia Kapitel 31, Vers 8)
Jesus und der Blick für die Ausgegrenzten
Der Satz aus Matthäus Kapitel 11, Vers 28 «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken» nach der Lutherübersetzung ist mir bis heute im Ohr. Er war fester Bestandteil in der Liturgie des Gottesdienstes für die Heimbewohner in Schwarzach und wurde ihnen Sonntag für Sonntag zugesprochen. Die Evangelien bezeugen, dass Jesus sich in ganz besonderer Weise solchen Menschen zugewandt hat, die von anderen ausgegrenzt und verachtet wurden. Jesus hat ihnen Wertschätzung geschenkt und sie zum Glauben eingeladen. Spekulationen darüber, Behinderungen mit dem sündhaften Verhalten des Betroffenen oder seiner Eltern in Verbindung zu bringen, hat er klar abgelehnt (Johannes Kapitel 9, Vers 3). Er hat getan, was ausser Gott niemand kann: Er hat die Menschen von ihren Behinderungen befreit.
Die Heilungsdienste Jesu standen im Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes. Heute leben wir zwischen dem «schon jetzt» und dem «noch nicht» des von Gott geschenkten Heils: Gott beschenkt auch heute Menschen mit Heilung, aber in unserer Verfügung steht das nicht. In den meisten Fällen sind wir herausgefordert, mit den Beschränkungen zu leben, die uns auferlegt sind. Wir dürfen dies tun in aller Würde, die uns von Gott verliehen ist und in der Hoffnung, «dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll» (Römer Kapitel 8, Vers 18).
Wie gehen wir miteinander um?
Das Neue Testament fordert uns auf: «Einer trage des anderen Lasten.» (Galater Kapitel 6, Vers 2) Gemeinde ist eine wunderbare Einrichtung Gottes. Sie kann zu einem Ort werden, an dem Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ein Zuhause finden. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen können wir das mit ein wenig Aufwand möglich machen. Rollstuhlgerechte Zugänge, Toiletten für Menschen mit Behinderungen, technische Hörhilfen usw. gehören inzwischen in vielen Gemeindehäusern zum Standard. Einen Abholdienst einrichten oder eine Gottesdienstbegleitung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen finden: Solche Aufgaben können wir als Gemeinde stemmen.
Eine Herausforderung bleiben sicher solche Menschen, die unter stärkeren geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen leiden und die wir als anstrengend empfinden. Menschen, die in kein Schema passen, die sich nicht nach den Spielregeln unserer grossen und kleinen Gemeindegruppen verhalten. Wenn Inklusion möglich ist: umso besser. Aber wenn es da beispielsweise diese eine Person gibt, die von einem Hauskreis zum anderen weitergereicht wird, weil sie zwar herzensgut ist, aber alle Gespräche sprengt – da ist das übliche Hauskreisformat offensichtlich überfordert und Gemeinde herausgefordert, neue Wege zu gehen. Bestimmt haben Sie aus Ihrer Gemeinde auch eine solche oder ähnliche Situation vor Augen. (Und natürlich sollten wir bedenken, dass wir in den Augen der anderen vielleicht selbst manchmal die «anstrengende» Person sind!)
Mein persönlicher Auftrag
Jesus traut uns zu, dass wir auch auf die «schwierigen» Menschen zugehen! In seiner Endzeitrede appelliert er sogar eindringlich: Habt ihr euch um die gekümmert, die in Not waren (Matthäus Kapitel 25, Verse 31–46)? Beruft Jesus vielleicht mich dazu, ein (inoffizieller) Pate für eine Person zu werden, die nicht ins Schema passt? Ich kann mir beispielsweise vornehmen, nach dem Gottesdienst den Kontakt mit der Person zu pflegen. Ich kann gelegentlich mit ihr telefonieren oder schreiben oder mich mit ihr auf einen Kaffee treffen.
Ich darf dabei Grenzen setzen. Gerade wenn die andere Person kein gutes Gefühl für Grenzen hat, ist das umso wichtiger. Und Vorsicht: Es gibt psychische Erkrankungen, bei denen nur ein Fachmann oder eine Fachfrau helfen kann. In allen anderen Fällen aber können wir als Einzelne und als Gemeinde Verantwortung füreinander übernehmen. Wir können Lasten gemeinsam tragen, um nach dem Vorbild von Jesus den Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit Wertschätzung zu geben und sie in die Gemeinschaft einzubeziehen.
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Datum: 17.04.2025
Autor:
Dr. Julius Steinberg
Quelle:
Magazin Christsein Heute 04/2025, SCM Bundes-Verlag