Keine Angst vor «Überfremdung»
«Schau mal die vielen Leute aus dem Ausland – sie fühlen sich hier alle wie zu Hause!» Das sagt ein Wirt während des deutschen «Sommermärchens», der Fussball-WM 2006. Und er klingt stolz und glücklich dabei. «Schau mal die vielen Leute aus dem Ausland – und sie fühlen sich hier alle wie zu Hause!» Das sagt eine Rentnerin in der U-Bahn. Und sie klingt ängstlich und verbittert dabei. Zweimal dieselbe Aussage – und doch ist etwas völlig anderes gemeint. Das macht deutlich, dass die Gefühlslage eine wichtige Rolle dabei spielt, wie wir Fremdes um uns herum wahrnehmen.
Beispielhaft dafür ist Offenbach am Main, eine Mittelstadt mit etwas über 100'000 Einwohnern. Besonders ist allerdings, dass es die deutsche Stadt mit den meisten Nationalitäten ist: Hier leben Menschen aus über 160 verschiedenen Nationen. Das bringt Probleme mit sich und Chancen. Das kann Ängste erzeugen oder ein multikulturelles Flair. Besonders im Fokus des Interesses stehen dabei nicht die eingewanderten Briten, sondern eher dunkelhäutige Muslime aus südlichen Ländern.
Die christliche Perspektive gibt es nicht
In Deutschland leben über fünf Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund, das sind knapp sieben Prozent der Bevölkerung. In der Schweiz sind es rund 450'000, was ebenfalls über sechs Prozent der Einwohner ausmacht. Das sind erst einmal nur Zahlen, in der Praxis gilt es nun, mit den Menschen dahinter umzugehen. Und die sind so unterschiedlich wie die sonstigen Einwohner der beiden Länder: Da gibt es Gebildete und Ungebildete, Fanatiker und Tolerante, Religiöse und Ungläubige. Im Umgang miteinander ist die Religionsfreiheit eine wichtige Errungenschaft unserer Gesellschaft. Sie betrifft Christen wie Muslime gleichermassen. Trotzdem führt diese Religionsfreiheit auch zusammen mit einer von der Bibel her geprägten christlichen Haltung nicht automatisch zu einer einheitlichen christlichen Perspektive. Sie schafft aber immerhin eine solide Grundlage, um miteinander zu reden und Antworten auf praktische Fragen zu finden: Wie funktioniert gegenseitige Rücksichtnahme in unserer Strasse? Wie gehen wir am Arbeitsplatz mit Weihnachtsfeiern und dem Fasten im Ramadan um? Passt es, hier im Stadtteil eine Moschee zu bauen?
Angst ist ein schlechter Berater
Wer dabei ist, zusammen nach Lösungen für konkrete Fragen zu suchen, ist schon einen gewaltigen Schritt vorangekommen. Oft wird das Miteinander nämlich von Ängsten überschattet. Dabei beherrschen dann Begriffe das Gespräch, die bereits mit einer negativen Grundhaltung aufgeladen sind. Diese benennen keine Fakten, sondern zielen auf unsere Gefühle und prägen dadurch unser Denken. Dazu gehören Schlagworte wie «Überfremdung» (übrigens 1993 das «Unwort des Jahres»), die nicht genau definierbar sind, aber Gefühle von Übermässigkeit und Fremdheit miteinander verbinden. Dazu gehören politische Beurteilungen wie in Thilo Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab», immerhin einem der meistverkauften Sachbücher der Nachkriegszeit. Dort werden wissenschaftliche Fakten neben fragwürdigen ideologisch geprägten Behauptungen verbreitet, um eine angebliche Abwärtsentwicklung in Deutschland durch muslimische Zuwanderer zu begründen. Dazu gehören auch Verschwörungsmythen wie derjenige einer gezielten und gesteuerten «Missionierung» Europas durch den Islam. Woher kommen diese Ängste?
Die Angst vor neuen Mehrheitsverhältnissen
Ein typisches Narrativ ist die zukünftige islamische Mehrheit in Europa. Rein faktisch ist es interessant, dass gerade Christen, die ihrerseits andere mit ihrem Glauben «missionieren» wollen, dasselbe beim Islam als angriffig verstehen. Immer mal wieder gibt es Hochrechnungen, die zeigen sollen, dass ab dem Jahr 2060 die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland muslimisch sein soll. Für diese Zeiträume kann man hier allerdings nicht von Statistik sprechen, sondern nur von Spekulation. Wer dieselben 35 Jahre zurückschaut, sieht, dass weder Donald Trump noch die digitale Revolution, die seitdem geschah, sich in irgendeiner Form abzeichneten – obwohl der US-Präsident damals bereits 44 Jahre alt war und sich erste Firmennetzwerke 1990 zum World Wide Web zusammenschlossen.
Es ist eine Sache, sich in Glaubensfragen über ein «christliches Abendland» mit zahlreichen Segnungen dadurch zu freuen – aber es ist eine ganz andere Sache, den eigenen Glauben als gegebene Mehrheit vorauszusetzen und eher an Machtpositionen zu denken. Interessanterweise war die stärkste Phase des Christentums die Zeit, wo es deutlich in der Minderheit war. Paulus & Co. waren nicht von Angst vor der damaligen Mehrheitsgesellschaft geprägt, sondern erzählten fröhlich von dem Glauben, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Die Angst vor der eigenen Schwäche
Die Angst, selbst zur Minderheit zu werden, hängt auch mit einem anderen Aspekt zusammen: Es ist weniger die Angst vor der Stärke des anderen (wie des Islam) als vor der eigenen Schwäche. Dass der muslimische Anteil der Bevölkerung in den letzten Jahren um drei Prozent gestiegen ist, ist längst nicht so dramatisch wie das Schrumpfen von Kirchen und Gemeinden um 30 Prozent. Dazu kommt der schwierige Vergleich von christlichen Gemeinschaften, aus denen man wahrnehmbar austreten kann, mit muslimischen Gemeinschaften, bei denen das offiziell nicht möglich ist. Viele der angstmachenden Vergleiche entstehen genau dadurch: dass Dinge nebeneinandergestellt werden, die kaum vergleichbar sind, sich aber fremd und bedrohlich anfühlen.
Und nun?
Das politische Klima weltweit wird nachweisbar rauer. Wenn dabei und genauso im gemeindlichen Alltag Themen wie Toleranz, andere Religionen, übergriffiges Verhalten von Migranten, Fremdheitsgefühle und vieles andere besprochen werden und man versucht, damit umzugehen, dann sind diffuse Ängste keine guten Ratgeber. Bei aller Klarheit und Überzeugungen für «die eigene Sache» orientieren sich Christen an Werten wie Versöhnung, Respekt und Liebe. Was sich erst einmal theoretisch anhört, wird immens praktisch, wenn man sich nicht von Fremdheitsgefühlen ängstigen lässt, sondern dem ein biblisches «Habt die Fremden lieb!» entgegensetzt.
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