«Toxische Männlichkeit»

Aufruf zu neuer Diskussion um die Zukunft der Männer

Drei Männer sitzen an einem See
Viele Frauen kämpfen noch immer um ihre Gegenwart. Dürfen wir heutzutage eine Diskussion über die Zukunft der Männer einfordern? Ja, sagt Andreas Walker und wirft dazu ein paar aufrüttelnde Fragen auf.

Seit einer ersten Welle in der Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfen Feminismus und Frauenbewegung ausgehend von Europa und den USA um eine gleichberechtigte Gegenwart. Parallel zu den sogenannten «68ern» und zum «Neomarxismus» erreichte eine zweite Welle ihren Höhepunkt: Sie war eng verknüpft mit der Forderung nach einer sexuellen Befreiung der Frau, ermöglicht durch die neuen medizinischen Mittel der Empfängnisverhütung. Erst 1981 wurde in der Schweiz in der Bundesverfassung (Artikel 8 Absatz 3) die Gleichstellung von Mann und Frau in Familie, Ausbildung und Arbeit verankert. Und noch immer ist die Diskussion um den sogenannten «Gender Pay Gap» – das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern – heftig und umstritten, obwohl 2023 eine neue Studie der Universität St. Gallen und des Arbeitgeberverbandes reklamiert, dass diese Diskriminierung nicht mehr bestehe. Dies steht aber im Widerspruch zu den Statistiken des Bundes.

Der Kampf der Frauen um ihre Gegenwart

Mit ihrem Buch «Endlich gleich» und einer Vielzahl begleitender Beiträge in Blogs und Social Media versucht unter anderem die christliche Sozialpädagogin, Paar- und Familienberaterin und Sexologin Veronika Schmidt seit 2019 diese Diskussion in die konservativen evangelikalen Kreise in der Schweiz hineinzutragen und stösst gemäss eigener Aussagen auf grossen männlichen Widerstand.

Viele Frauen in der Schweiz, in Europa und in den USA kämpfen also noch immer primär um ihre Gegenwart – von muslimischen, afrikanischen und asiatischen Ländern ganz zu schweigen.

Brauchen wir eine neue Männlichkeit?

Es ist offensichtlich: Wir brauchen eine neue Diskussion der Männlichkeit – gerade auch in unserer christlichen Kultur. Spätestens seit dem Barbie-Film 2023 wissen wir: «Barbie ist alles. Er ist einfach nur Ken.» In sarkastischer Art spitzt dieses Filmzitat zu, wie für die Diskussion um die Zukunft der Frau den positiven Möglichkeiten und Fantasien keine Grenzen gesetzt sind – die Diskussion um den Mann hat sich nie entfaltet. Und ja – als betroffener Mann fühle ich mich durch diese visionslose Zuweisung durchaus (selbstironisch) diskriminiert.

Als einer der wenigen christlichen «Zukunfts-Denker» möchte ich 2023 erneut eine Diskussion um die Zukunft der Männer anstossen – gerade auch in unseren explizit christlichen Kreisen, nachdem ich als damaliger Co-Präsident von swissfuture das Magazin 2014/1 «Die Zukunft des Mannes» herausgegeben habe. Erst vor kurzem organisierte die christliche Klinik SGM Langenthal 2021 die Fachtagung «Superman in der Krise» und eröffnete 2022 mit der «Männerinsel» die erste männerspezifische Psychiatriestation der Schweiz.

Es ist an der Zeit, dass gerade auch Christen sich der Problematik der «toxischen Männlichkeit» stellen, nicht nur weil im zurückliegenden 2023 Markus Theunert als einer der Vordenker der Männerbewegung im deutschsprachigen Raum dieses Konzept mehrfach in den Medien thematisiert hat.

Männlichkeit ohne Zukunft

Andreas Walker

Ein neuer Typ von Männlichkeit ohne Zukunft erfordert heute unsere Aufmerksamkeit. Erschüttert verfolge ich seit dem 7. Oktober 2023, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora, die Berichte über die Gräueltaten palästinensischer Terroristen und die massiven Reaktionen des israelischen Militärs. Verzweifelt fragte ich mich: Wie können junge Männer im Alter meiner Söhne zu solchen abscheulichen Taten in der Lage sein? Aktuell können wir annehmen, dass viele davon unter dem Einfluss der Droge Captagon standen: Was hier geschehen ist, war wortwörtlich ein Drogen- und Blutrausch.

Doch schon länger wissen wir aus der soziologischen Forschung im frankophonen Raum zum Terroranschlag 2015 im Kulturzentrum Bataclan in Paris und zur Situation in den Banlieues in Frankreich und Belgien: Es geht nicht bloss um radikalisierte Islamisten und religiös fanatische Terroristen – es geht um junge Männer, die keine Zukunft im Bildungs- und Wirtschaftssystem finden. Dies sind nicht fromme Muslim, die sich radikalisieren, sondern junge Männer ohne Perspektive, die verzweifelt und deshalb offen sind für einen religiösen Deckmantel für ihre Gewaltbereitschaft.

Aber auch bei uns in der friedlichen Schweiz wissen wir statistisch nachgewiesen: Ein Gewalttäter ist meistens ein Mann – das Opfer ist häufig eine Frau:

  • In der Summe aller Straftaten werden rund vier Mal mehr Männer als Frauen verurteilt.
     
  • Bei häuslicher Gewalt mit vollendeten Tötungsdelikten sind sechs Mal mehr Männer die Beschuldigten.
     
  • Und: Gemäss Opferhilfestatistik sind durchschnittlich 50 Prozent mehr Frauen als Männer die Opfer.

Angestossen durch das damals in ungerechter Weise vorhandene asymmetrische Geschlechterverhältnis während Jahrtausenden haben wir als Babyboomer, Gen X und Y jahrzehntelang debattiert, wie Frauen an den männlichen Rechten partizipieren können und wie männliche Rollen und Verhaltensweisen auch für Frauen offenstehen können. Es war wichtig und richtig, dass die Gegenwart nicht nur männlich ist, sondern dass Frauen vollumfänglich daran teilhaben können.

Fragen, denen wir uns stellen müssen

Wenn wir nun die Diskussion über die Zukunft der Menschlichkeit weiterführen wollen, dann müssen wir auch über die Zukunft der Männlichkeit sprechen:

  • Warum interessieren sich Frauen zunehmend für traditionell männliche Berufe – in der höheren Ausbildung an Schulen, Fachhochschulen und Universitäten haben mittlerweile junge Frauen der GenZ die jungen Männer deutlich überholt – während nur wenige Männer den Weg in Richtung Pflege, Erziehung, Soziales und Ästhetik einschlagen?
     
  • Welche Berufswege können Männer in Zukunft wählen, wenn in den klassischen muskelkraftbetonten Branchen wie Bau, Landwirtschaft, Transport, Sicherheit, u.a.m. die Bedeutung von smarten Maschinen und Robotern deutlich zunimmt und damit Menschen – eben Männer – ersetzt?
     
  • Wie stellen wir körperliche und sportliche Bewegung in einer Welt sicher, in der immer mehr Zeit für virtuelle Scheinwelten aufgewendet wird?
     
  • Warum fällt es noch immer so vielen Männern schwer, über Emotionen zu reden und soziale, kommunikative und psychologische Kompetenzen zu entwickeln?
     
  • Warum gelten Selbstsorge und Achtsamkeit immer noch als unmännlich?
     
  • Wie können männliche Identitäten und Vorbilder in Zukunft aussehen?

Diesen Fragen sollten wir gemeinsam nachgehen, denn: Männer ohne Zukunft werden unmenschlich.

Dieser Text erschien zuerst im Forum Integriertes Christsein.

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Datum: 08.11.2023
Autor: Andreas Walker
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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