«Heute ist vieles möglich, wovon ich früher nur träumen konnte»
Livenet: Kurt Spiess, Sie haben kürzlich Ihren 80. Geburtstag gefeiert. Wie haben Sie die 15 Jahre seit der Pensionierung gestaltet?
Kurt Spiess: Eigentlich nicht viel anders als vorher. Nur dass ich keine Verantwortung mehr für eine Gemeinde hatte. Die Berufung als Pastor hört eigentlich nie auf, sie kann aber freier gestaltet werden. Das schätze ich heute sehr. Viele Dinge kann ich tun, die vorher nicht möglich waren. Zum Beispiel Bilder malen. Mit 73 habe ich das noch gelernt und viel Freude erlebt. Anspruchsvoll ist jedoch die Spannung zwischen Sein und Tun. Nur die Werke tun, die Gott für mich vorbereitet hat – nicht mehr und nicht weniger –, muss gelernt werden. Denn man hat ja keine fixe Struktur mehr im Leben, aber das gibt auch die Möglichkeit, unter der Leitung des Heiligen Geistes viel zu erleben. Darum geniesse ich diese Zeit.
Haben Sie in dieser Zeit auch grundlegende Veränderungen in Kirche und Mission festgestellt?
Ja, und zwar sehr positive! Vieles, was mich früher belastet hat und ich mir anders gewünscht hätte, hat sich positiv verändert. Gemeinden und Mission sind viel offener und ganzheitlicher in ihrem Auftrag geworden. Man nennt es «missional» leben. Man hat auch viel voneinander gelernt, anstatt sich zu konkurrenzieren, und arbeitet gerne zusammen. Ich freue mich auch sehr über die Entwicklung in der FEG Schweiz, zu der ich gehöre. Man geht mutig, aber besonnen vorwärts, und vieles ist heute möglich, wovon ich früher nur träumen konnte.
Welche Veränderungen stellen Sie seit Ihrem Eintritt in den vollzeitlichen Dienst im Jahr 1963 bis heute fest?
Im Jahre 1963 habe ich als Praktikant in der FEG Thayngen SH angefangen. Ich hatte einen guten Start und bekam viel Freiheit. Meine erste selbständige Gemeindeaufgabe war in Steffisburg bei Thun. Es war für sie nicht einfach, mich als quirligen Pastor zu verstehen. Vor allem ich selbst habe dort die grösste Lektion gelernt. Ich empfand die Gemeinde als recht träge, wurde ungeduldig und habe hie und da auch lieblose Bemerkungen gemacht. Es kam zur Krise. Ich musste über meinen zukünftigen Weg Klarheit bekommen. Darum suchte ich mir eine Halbzeitstelle auf dem Bau. Dort wurde mir klar, dass Pastor sein meine unaufgebbare Berufung ist. Die zweite, sehr wichtige Einsicht gewann ich aus dieser Distanz: Das Ziel, das ich anstrebte, war nicht falsch, aber ohne Liebe ist alles verkehrt. Das wurde für mich zum Lebens- und Leitungsgrundsatz. In einer Gemeindeversammlung habe ich das bekannt, und es kehrte wieder Frieden ein. Aber mir war dabei auch bewusst geworden, dass die Gemeinden wesentlich mehr in ihren Gaben gefördert und nach aussen beziehungsfähig gemacht werden mussten. Da wurden in der Folge grosse Fortschritte erzielt.
Was ist Ihre Kernbotschaft, wenn Sie heute mit Menschen über den Glauben sprechen?
Im Prinzip natürlich dieselbe wie zu allen Zeiten. Aber es war mir immer wichtig, nicht nur biblisches Wissen zu vermehren, sondern dass die Herzen bewegt und Leben verändert werden. Mein Wunsch für die Zuhörenden war, dass sie meine Worte wie einst die Emmaus-Jünger hören konnten: «Brannte nicht unser Herz, als er uns die Schrift öffnete». Aber auch Kontakte nach «aussen» erachtete ich immer wieder als sehr hilfreich, um nicht im theologischen Elfenbeinturm abgeschottet zu leben. Den heutigen Menschen versuche ich oft, den Unterschied zwischen Religion und Evangelium zu erklären. Da herrscht grosse Unwissenheit und Verwirrung.
Wo wird die christliche Gemeinde in den kommenden Jahren besonders herausgefordert sein?
Wir müssen aufpassen, uns in unserer schnelllebigen Zeit nicht zu verzetteln. Besonders das Reich-Gottes-Bewusstsein muss gefördert werden. Jesus bezeichnet es als «Schätze im Himmel sammeln». Schaffen wir mit unserem Leben Ewigkeitswerte, oder werden wir getrieben von Sehnsüchten und Wünschen, die oft künstlich geweckt werden, wenn wir die ganze Medien-Palette berücksichtigen wollen? Zudem werden die Herausforderungen in den sozialen und ethischen Fragen immer komplexer.
Zur Person
Kurt Spiess, 80, verheiratet, 5 erwachsene Kinder, hatte 1999-2002 das Amt des SEA-Präsidenten übernommen, als sich die Allianz in einer schwierigen finanziellen Situation befand. «Mit Gottes Hilfe, vielen Gesprächen und mutigen Entscheiden hat er mitgeholfen, die SEA wieder auf soliden Boden zu stellen», stellt sein Sohn und aktueller SEA-Generalsekretär Matthias Spiess fest. «Nicht nur finanziell.»
Sein Erbe als Vater von fünf Kindern, FEG-Pastor, Sektionspräsident, Präsident von Credo91 oder als Mitgestalter von Christustagen ist vielfältig. Insbesondere hat er viel zur positiven öffentlichen Wahrnehmung der Christinnen und Christen und deren Einheit beigetragen. Am 29. Januar 2017 feierte er seinen 80. Geburtstag. Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau ist er heute mit Monika verheiratet. Matthias Spiess hat zum Jubiläum seines Vaters festgehalten: «Deine Liebe zu Jesus, deine grosszügige Art, deine Leidenschaft für Einheit und den Wunsch, das Gute zu sehen, haben mich stark geprägt und letztendlich auch in die Verantwortung bei der SEA geführt. Diese DNA will ich weitertragen und weitergeben.»
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Datum: 16.02.2017
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet