"Man darf nicht zu kurzfristig denken", meint Kurth. "Wie beim biblischen Weg durch die Wüste braucht es vielleicht 40 Jahre, bis Russland wieder auf den Beinen ist. Das darf uns nicht abschrecken. Neben dem Alkoholproblem ist die grösste Hypothek in den Köpfen. Besonders bei der mittleren und älteren Generation sitzt das kommunistische Erbe mit seiner Urangst vor dem Staatsapparat noch tief. Gleichzeitig fällt es den Russen schwer zu akzeptieren, dass sie nicht mehr Weltmacht sind. Anders bei den jungen Menschen. Seit drei Jahren fällt mir auf, dass die Studenten in Nischnij Nowgorod anders reden als die Alten. Sie sind spontan, selbstbewusst, freier, unternehmungslustiger. Sie sehen nach vorne, haben mehr Zukunftsperspektive, trotz wenig Aussicht auf Arbeitsplätze in ihrem Fach." Wir im Westen sind oft erschütterter über ihre Lebensumstände als sie selbst. Die Russen sind Überlebenskünstler. Eigentlich müssten sie von ihrem Lohn und den Lebenskosten her verhungern. Aber seit 1000 Jahren überleben sie. Sie werden es auch jetzt schaffen, so Kurth. Dass Russland eine positive Entwicklung machen könne, sei er aus drei Gründen überzeugt: Wegen des Potential der jungen Generation, der Bodenschätze und der wachsenden Bereitschaft westlicher Firmen zu investieren. Nestlé ging in den ersten Jahren nicht nach Russland. Jetzt gebe es drei grössere Produktionsstätten und einen wachsenden Markt. Allerdings habe es auch Szenarien für negative Entwicklungen. Mit Russland wird es aufwärts gehen, je mehr sich die Menschen auf ihre eigenen Stärken besinnen. Diese Stärken sind zum Beispiel: Diese Stärken gelte es zu unterstützen und frei zu setzen. Gegenüber den Anfangsjahren habe sich die Strategie in der Zusammenarbeit mit den einheimischen Christen völlig geändert. Nicht mehr, was westliche Christen bringen, sei wichtig, sondern wieweit es gelinge, die Eigeninitiative der russischen Menschen zu fördern. "Heute sind die Christen müde vom ausländischen Missionseifer; die Euphorie der ersten Jahre ist verflogen, Gemeinden schrumpfen sogar wieder. Leitungsbegabte Christen werden, wie bei uns auch, vom Beruf oder vom neu aufgebauten Business in Beschlag genommen", berichtet Kurth. "Aber hier liegt unsere Chance: Christen zu helfen, ihre eigenen Wurzeln zu entwickeln und ihnen in der Umsetzung ihrer Ideen zu helfen. " Unsere Strategie: Wir investieren in Menschen. Pauschale Hilfe an Institutionen wie Spitäler hat nicht viel gebracht. Unsere Schlüsselfrage lautet heute: Wo zeigt uns Gott selbstinitiative Russen? Wo haben Russen selber eine Not in ihrem Umfeld gesehen und haben ohne Hilfe von Aussen darauf reagiert? Wo haben Menschen „aus dem Nichts“ etwas zustande gebracht und Gott segnet es? "Gott führt manchmal eigenartige Wege", berichtet Kurth. " Als ich einmal auf den Strassen von Nischnij Nowgorod zu Fuss unterwegs war, stolperte ich und fiel einer Frau in die Arme. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie mit einigen anderen Frauen cerebral gelähmte Kinder aufgenommen hatte und sie in einer Art Wohngemeinschaft betreuten. Sie fragte uns, ob wir Kinderwagen für grössere behinderte Kinder finanzieren könnten. Im weiteren haben wir Physiotherapeutinnen mitgebracht, die den Frauen zeigten, wie sie mit den Kindern Beweglichkeits-Übungen machen können. Inzwischen ist aus dieser privaten Initiative ein Heim mit 200 Kindern gewachsen, das vom Staat und dem ansässigen Autowerk finanziert wird." Ein anderes Beispiel: 1993 haben wir einem Arzt geholfen eine Arztpraxis zu eröffnen, die wir aber später mangels staatlicher Subvention schliessen mussten. Das heisst, wir bauten die Räumlichkeiten so um, dass wir sie als Reha-Zentrum für Alkoholsüchtige nutzen konnten. Unser Arzt Viktor Gurski hat so zwischen 1994 und 1998 über 300 Alkoholabhängige in christlichen Selbsthilfegruppen geistlich und medizinisch in die Freiheit geführt. Die Abmachung war, dass diese Reha-Station nach fünf Jahren finanziell selbsttragend werden sollte. Zuerst jammerte Viktor, aber ich hatte den Eindruck, ich sollte nicht nachgeben. Wie aus Eingebung sagte ich ihm: „Ich kenne Gott nicht von dieser Seite, dass er etwas fahren lässt, was er so gesegnet hat.“ Viktor packte die Herausforderung. Er lud alle ehemaligen Alkoholiker und deren Angehörige ein, schilderte ihnen die Situation; und heute wird dieses Reha-Zentrum von diesen Leuten getragen. Pro Reise wollen mich jeweils etwa 20 Leute treffen, so Kurth, die sich vor allem finanzielle Hilfe aus dem Westen erhoffen. Unsere Antwort ist immer gleich: Fange an ohne uns; zeige uns in einem Jahr, was entstanden ist. Nur einer von zwanzig schafft diese Schwelle, aber dadurch zeigt sich, wo jemand längerfristig selbstmotiviert und fähig ist. Diese Erfahrung haben wir nicht nur im sozialen, sondern auch im geistlichen Bereich gemacht. Seit 1992 kommen viele westliche Missionen nach Russland. Anfänglich herrschte grosse Begeisterung, viel Geld wurde gesammelt, russische Christen wurden in westliche Visionen und Programme eingespannt. Auch wir haben nach Mission Wolga diese Schlagseite gehabt. Inzwischen sind die Russen ernüchtert. Sie wollen das Spiel nicht mehr mitmachen, in dem die Ausländer die Experten und sie die Handlanger sind. Sie wünschen Partnerschaft, in der sie als Brüder und Schwestern ernst genommen werden. Im Laufe der Zeit haben wir eine neue Kultur der Zusammenarbeit gelernt. Evangelisationen werden heute partnerschaftlich organisiert, wir engagieren uns in der Schulung und finanziell, aber die Evangelisten sind russische Pastoren. Unser Ziel ist mitzuhelfen, dass sich eine moderne, eigenständige russische Gemeinde- und Anbetungskultur entwickeln kann. Das ist auch gelungen mit dem Aufbau der Lobpreis-Band „Agape“, geleitet von Sergej Tichomirow, die heute ein hohes Niveau hat, ausschliesslich eigene Lieder schreibt und schon drei Musikproduktionen herausgegeben hat. Die Gemeinden stehen vor grossen Herausforderungen. Die Ausstrahlung der älteren Gemeinden Russlands ist ziemlich steif, förmlich, leicht depressiv; in Predigt und Liedgut wird das Leiden betont, was durch die 70 Jahre Verfolgungszeit verständlich ist. Moderne Russen werden dadurch aber kaum angesprochen, auch nicht durch die amerikanisierten, neuen Gemeinden, die an vielen Orten entstanden sind, aber inzwischen stagnieren. "Obwohl wir in den letzten Jahren zwei russische Gemeindegründungen in Nischnij Nowgorod und Schirschinsk begleitet haben, war ich nicht befriedigt, berichtet Kurth. " Deshalb habe ich 1999 alle Leiter der grösseren Denominationen in Moskau einzeln getroffen und sie grundsätzlich gefragt: Was braucht eurer Meinung nach die russische Kirche? Ich habe ihnen auch von unserer Arbeit in Nischnij Nowgorod erzählt und unser Arbeitsinstrument der „Natürlichen Gemeindeentwicklung“ vorgestellt. Bei einigen war das Thema schnell abgehandelt. Sie wollten einfach Geld, aber waren an partnerschaftlicher Zusammenarbeit wenig interessiert. Anders Pastor Vladimir Murza, Bischof der Union der Pfingstlichen Gemeinden Russlands. Als erstes fragte er: „Darf ich dich umarmen?“ und als zweites: „Möchtest du hören, was Gott in Russland wirklich tun möchte?“ – Dann erzählte er mir, wie Gott geholfen hat, dass in den letzten Jahren mit Hilfe von ukrainischen Pastoren über 1000 Gemeinden gegründet werden konnten. Vor der Wende war die Ukraine vergleichsweise offen, und es gab verschiedene Ausbildungsstätten für Pastoren. Jetzt ist die Zusammenarbeit mit der Ukraine aus politischen Gründen schwierig geworden." Murza möchte weiter Gemeinden gründen, hat aber keine Finanzen für Ausbildung und Lohn für einheimische Pastoren. „Wieso helft ihr nicht uns, das umzusetzen, was wir von Gott gehört haben?“ fragte er. „Warum macht Ihr vom Westen immer eure eigenen Projekte?“ Könnten wir nicht in eine Partnerschaft treten, in der beide Seiten geben und nehmen?“ In einer zweitägigen Fasten- und Gebetsretraite ist dann ein Partnerschaftsprojekt entstanden, dass zukunftsweisend sein könnte . Wir möchten in den nächsten Jahren von Campus für Christus Schweiz dazu beitragen, dass 150 Gemeinden gegründet werden können, indem russische Pastoren während der ersten zwei Jahren Aufbauarbeit unterstützt werden. Dann sollten die neu gegründeten Gemeinden selbsttragend sein. Ein weiterer Schritt, den wir mit den russischen Christen gehen, ist, dass wir nicht nur Schulung bringen, sondern sie lehren, dass sie sendende Gemeinde werden können. Ihr Selbstverständnis ändert sich vom empfangenden zum auch gebenden Teil am Leib Christi. Diesen Sommer sandten wir 48 Russen, je acht aus der gleichen Gemeinde, auf einen missionarischen Einsatz zu je einer Schwestergemeinde in verschiedenen kasachischen Städten. Daraus soll sich wiederum eine längerfristige Partnerschaft zwischen russischen und kasachischen Gemeinden entwickeln. Die Reisen in Russland verändern mein ganzes Leben, die Menschen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, sie lassen mich buchstäblich nicht mehr los. Charakterlich bin ich nie so an meine Grenzen gestossen wie in diesem Land, aber auch nirgends so in meinen Werten und meinem Charakter geformt worden. In den ersten zwei Jahren war ich oft enttäuscht und grollte: „Jetzt bin ich hier und will helfen, aber niemand hält sich einen Deut an die Abmachungen!“ Oft hab ich ausgerufen, war verzweifelt, habe geweint. Oft fühle ich mich müde und ausgelaugt. Doch wie immer wenn ich wieder nach Hause komme, sehe ich alles mit anderen Augen. Ich brauche immer wieder Abstand und Zeit, um Russland zu verstehen. Aber ich liebe dieses Land, seine Menschen, ihre Freundlichkeit, ihren Durchhaltewillen. In Russland können wir lernen, auf was es im Leben wirklich ankommt. Für mich heisst das, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, mich von der Not der uns umgebenden Menschen ergreifen zu lassen. Selbstverständlich können wir nicht allen Menschen helfen, wir können aber wenigstens das tun was in unseren Kräften steht. Wenn wir den kleinen Leuten in vielen kleinen Städten und Dörfern die Liebe Gottes näher bringen, wenn wir sie lehren, selber kleine Schritte zu tun, so können sie die Welt verändern und sie wird dadurch besser werden. Das nenne ich die "Jesus" Strategie. Ich bin überzeugt, dass die beste Zeit für Russland noch kommt. 1855 hatte Hudson Taylor eine Vision, die er mit folgenden Worten beschrieb: „In Russland sah ich eine allgemeine, allumfassende, nationale, geistliche Erweckung: So mächtig, dass niemals eine andere ihr gleichen würde. Anschliessend sah ich, dass sich diese Erweckung von Russland aus in viele europäische Länder ausbreiten würde. Dann sah ich eine totale Erweckung, auf die das Wiederkommen Jesus folgte.“ Ich glaube, die Engel verkünden es schon über den Städten und den Hügeln: Die Erweckung wird kommen, in den nächsten Jahren: Seid bereit! Denn Gott wird noch Antwort geben auf die jahrelangen Gebete der Grossmütter und Mütter in diesem Land, und er wird die Leidenssaat der Christen aufgehen lassen. Autor: Peter HöhnAuf die eigenen Stärken besinnen
- Überdurchschnittlicher Bildungsstand (der zwar oft in krassem Gegensatz zum wirtschaftlichen Output steht).
- Überdurchschnittliches künstlerisches Niveau in allen Bereichen und ein kulturelles Leben, das im Volk verwurzelt ist: Gedichte schreiben, singen, musizieren gehört vielerorts zur Allgemeinbildung.
- Lernbereitschaft und geistlicher Hunger.
- Krisenerfahrenheit.
- Pioniergeist und grossräumiges Verständnis.Mission Wolga: Gott zeigt uns selbstinitiative Russen?
Selbstverantwortung fördern
Eigenständige russische Gemeinde-Kultur
Die Herausforderung
Die Ideen der Russen unterstützen
Sendende Gemeinde werden
Was bedeutet Russland für mich?
"Jesus-Strategie"
Erweckung
Datum: 15.09.2003
Quelle: Christliches Zeugnis