Gott sieht auf das Herz – und nicht auf die Form
Vor zwei Jahren habt ihr als FeG Nanzenbach mit barrierefreien Gottesdiensten gestartet: Wie ist es dazu gekommen?
Stefan Bieber: Unser Social-Media-Team ist auf den Podcast «Inklusivminuten» aufmerksam geworden. Dort erläuterte die selbst gehandicapte Ilonka Discher dem Moderator das Problem: Menschen mit Behinderung können oft nicht vollständig am Glaubensleben teilhaben, weil z. B. kein verständlicher Gottesdienst in «Leichter Sprache» für sie angeboten wird. Unser Team war tief berührt. Ich selbst habe ja 26 Jahre für die Willow Creek Community Church in Chicago gearbeitet. Dort würden wir bei den Gefühlen von unserem Social-Media-Team über einen «holy discontent» sprechen – eine «heilige Unzufriedenheit» – etwas, was auch geistlich nicht hinnehmbar oder akzeptabel ist. Wir haben stark gespürt, welches Herzensanliegen Gott hier hat und das dann einfach gehorsam als Auftrag umgesetzt. Obwohl wir in Nanzenbach aktuell gar keine Menschen mit Beeinträchtigung wohnen haben, also auch mit dieser Thematik als Gemeinde bislang gar nicht konfrontiert waren. Es entstand dann schnell eine Kooperation zwischen uns und der Lebenshilfe Dillenburg, um dieses besondere Angebot zu installieren.
Wie habt ihr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Gemeinde auf inklusive Gottesdienste vorbereitet?
Es ist essenziell, das Mindset der Gemeinde zu trainieren. Die Haltungsfrage der Gemeinde sollte sein, dass wir den Menschen mit Behinderung auf Augenhöhe begegnen und nicht «für sie», sondern «mit ihnen» gemeinsam einen Gottesdienst erleben wollen. Denn zu guter Letzt führen wir natürlich diese besonderen Events durch, aber es geht gar nicht zuerst um die Veranstaltung, sondern wir wollen tiefe Gemeinschaft mit Menschen und mit Gott leben und ermöglichen.
Welche Zielgruppe hattet ihr mit den besonderen Gottesdiensten im Blick?
Als primäre Zielgruppe hatten wir die letzten zwei Jahre die 450 Menschen mit Behinderung der Lebenshilfe Dillenburg im Blick und sind dabei zu überlegen, ob wir dieses Angebot noch auf Menschen mit Sehbehinderung ausweiten. In diesem Bereich habe ich persönlich einige Jahre Erfahrung. Dort würden wir dann z. B. alle Hauptpunkte des Gottesdienstes sogar noch «fühlbar» machen.
Grundsätzlich sind zu den Gottesdiensten aber gerade nicht nur Menschen mit Behinderung eingeladen, sondern auch Personen, denen Gottesdienste zu kompliziert sind. Oder Menschen, die sich mit bei einer nicht bekannten Liturgie in der Kirche eher unwohl fühlen. Inklusion bedeutet aber auch, dass es keine «Sonderveranstaltung» ist, sondern wir das gerade auf die Ebene des «regulären Gottesdienstes» heben – denn auch für jeden regulären Gottesdienstbesucher ist es hilfreich, Evangelium in einfachster Sprache zu hören und eine Bereicherung, die Zeit mit so fröhlichen, authentischen, ausgelassenen Menschen wie denen mit Behinderung zu verbringen.
Welche praktischen Schritte der Umsetzung seid ihr dann gegangen?
Vor zwei Jahren haben wir uns zuerst einmal in der Schreibwerkstatt Dillenburg mit Menschen mit Behinderung getroffen und gemeinsam die für sie interessanten Themen erörtert. Das erste Thema war z. B. «Wir lieben Konflikte!» Im Gottesdienst hatten wir dann eine «Open Stage», wo sehr persönliche Lebensgeschichten erzählt wurden. Mitmachelemente, Fragen ins Publikum, Inklusion der Menschen mit Behinderung im Begrüssungsdienst, Moderation, Band, Theater und in persönlichen Zeugnissen spielten ebenfalls eine Rolle. Die Predigt sollte in einfacher Sprache sein. Wir lassen sie daher zur Sicherheit immer noch einmal von Sprachexperten korrigieren. Auch sollten möglichst viele veranschaulichende Bilder die Predigt unterstützen und die interaktiven und witzigen Momente nicht fehlen. Unsere Worship-Lieder sind mit Symbolen und Bildern unterstützt, um die Texte besser zu erfassen.
Auf welche Hürden seid ihr getroffen?
Eine Hürde ist sicherlich die Organisation. Hier müssen ja z. B. viele Menschen mit Behinderung mit einem extra Fahrdienst zur Lokation gebracht werden. Das muss entsprechend langfristig geplant und dann vor Ort die ankommenden und abfahrenden Fahrzeuge geordnet werden.
Welches Feedback habt ihr auf die Gottesdienste bekommen?
Da ist so eine Energie im Raum, dass es für alle Besucher zu einem Gewinn geworden ist! Alle lieben diese gemeinsame Zeit. Ja, es ist viel Arbeit und da macht auch schon mal einer während dem Gottesdienst in die Hose – aber wir profitieren alle in diesem so ganz anderen, wertvollen, unkomplizierten Miteinander.
Wieso sind nicht an jedem Sonntag alle Gottesdienste bei euch barrierefrei und inklusiv?
Tatsächlich sind inzwischen alle Gottesdienste bei uns so gästeorientiert, dass du immer auch Menschen, die mit Glauben nichts zu tun haben, mitbringen kannst und sie sich zu 100 Prozent wohl fühlen. Wir achten darauf, dass keinerlei peinliche Momente entstehen und erklären unbekannte Dinge wie Gebet in «Du-Deutsch».
Bei Menschen mit Behinderung benötigt es aber nach unserer Einschätzung wirklich noch mal ein anderes Format. So ist sicherlich eine «Schwarzbrot-Predigt» zwar für Nichtchristen, aber nicht für Menschen mit Behinderung immer geeignet. Ich persönlich predige tatsächlich immer wechselnd: Evangelistische Grundlagen für suchende Menschen – Themen für Frisch-Bekehrte; Themen für Menschen, die jung im Glauben wachsen – Master-Class-Predigten für Menschen, die Christsein schon als Lebensmittelpunkt leben. Da geht es darum, wo wir beim geistlichen Wachstum stehen.
Bei unseren Gottesdiensten in einfacher Sprache oder anderen Events, die wir für spezielle Zielgruppen durchführen, geht aber eher darum, das Evangelium in einer auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnittene Form zu bringen. Aber: Irgendwie trenne ich da gerade Form und Inhalt und frage mich schon, ob das gut ist. Denn eure Frage ist schon berechtigt und wichtig. Und ich denke gerade... Ist vielleicht die Art, wie wir es gewohnt sind, Gottesdienste zu feiern, vielleicht auch eine Überforderung nicht nur für Menschen mit Behinderung? Sollten wir nicht sprachfähiger werden, die Dinge, die uns wirklich wichtig sind, in einfachen Worten weiterzugeben und zu teilen, sodass alle einen Platz und eine Heimat in unseren Gemeinden finden?
Wollt ihr in diesem Jahr weitere inklusive und barrierefreie Gottesdienst anbieten?
In diesem Jahr ist der nächste Gottesdienst Anfang Oktober geplant.
Eine Gemeinde will sich auf den Weg machen, barrierefreie Gottesdienste anzubieten: Worauf sollte sie besonders achten?
Mit der Gemeinde sollte vorab die Vision sehr gut besprochen werden, damit kein «Wir» und «Ihr» entsteht, sondern von Anfang an ein Miteinander. Bitte nicht zu viel Inhalt hineinpacken wollen – das ist kontraproduktiv. Lieber eine kurze, klare Botschaft und viel Freude im Gottesdienst durch Musik und gemeinsame Elemente. Gemeinde soll sich ja bei uns auch anfühlen wie ein Fest!
Sind unsere Gottesdienste zu exklusiv?
Wenn ich eine komplizierte Botschaft nicht einfach ausdrücken kann, habe ich sie scheinbar selbst noch nicht richtig verstanden und verinnerlicht. Mir hilft das, noch mal zu verstehen, dass das Evangelium so bildhaft und einfach ist und wir es manchmal nur unnötig verkomplizieren.
Was sind deine persönlichen Learnings in Bezug auf beeinträchtigte Menschen und die einfache Gute Nachricht von Jesus Christus?
Ich hatte vor einiger Zeit bei mir einen Menschen mit Beeinträchtigung sitzen, der Jesus Christus in sein Leben aufnehmen wollte. Im Gespräch betonte er immer wieder: «Ich will doch Jesus als meinen Freund im Leben haben!»– aber ich war so festgefahren, dass ich mit ihm unbedingt die vier geistlichen Gesetze durchgehen und hören wollte. Bis der Heilige Geist mich vehement darauf hinwies, dass ich mich gerade mit meinen überzogenen Ansprüchen an dieses Bekehrungsgespräch «versündige» – also nicht nach Gottes Vorstellungen agiere und sowohl Gott als auch meinem Gesprächspartner wehtue –, aber Gott auf das Herz sieht und nicht auf die Form.
Welcher Bibeltext macht dir Mut, für barrierefreie Gottesdienste einzustehen?
«Eins muss euch klar sein: Wenn ihr euch nicht ändert und so werdet wie die Kinder, dann könnt ihr nicht dorthin kommen, wo Gott das Sagen hat. Aber wer mal runterkommt und sich auf dieselbe Stufe wie dieses Kind stellt, der wird die Nummer eins werden, dort, wo Gott das Sagen hat.» (Matthäus Kapitel 18, Verse 3b–4; Volxbibel)
Zur Website:
FeG Nanzenbach
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Datum: 24.04.2025
Autor:
Artur Wiebe
Quelle:
Magazin Christsein Heute 04/2025, SCM Bundes-Verlag