Moderne Bibelwissenschaft

Das Worthaus-Phänomen

Für viele evangelikale Christen scheinen universitäre Theologie und Glaube so gegensätzlich zu sein wie der sprichwörtliche Teufel und das Weihwasser. Mehr als 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Worthaus-Tagungen sagen dazu deutlich nein. Und freuen sich an intellektuellen wie persönlichen Herausforderungen der diesjährigen Pfingstkonferenz in Tübingen.
Worthaus am Freakstock
Worthaus-Tagung in Tübingen

Vom 7. bis zum 11. Juni fand in Tübingen die neunte Worthaus-Konferenz statt. Fünf Referentinnen und Referenten um den emeritierten Professor Siegfried Zimmer nahmen in 13 längeren Vorträgen theologische Themen rund um das Thema «Gott ist die Liebe» in Angriff. Sie beschäftigten sich mit den alten Erklärungen des Glaubensbekenntnisses, wonach Christus Mensch geworden, für uns gestorben und auferstanden ist. Ihre Frage war: Lassen sich diese alten Formeln so verstehen, dass sie neu zu denken geben und nicht das Denken verabschieden? Immerhin 640 Interessierte aus ganz Deutschland und darüber hinaus kamen deswegen nach Tübingen.

Das Phänomen

Theologie und die Frage nach der Vernunft passen scheinbar kaum in die heutige Zeit. Doch mitten in den Abgesang auf Glauben, Denken und eine zeitgemässe Theologie sagen über 600 zumeist junge Christen, dass sie das nicht kümmert. Sie fahren zum Teil hunderte von Kilometern, hören anspruchsvolle Vorträge zum Thema und diskutieren hingebungsvoll miteinander. Das Ganze findet einmal jährlich auf der Worthaus-Tagung statt.

In den Monaten bis zur nächsten Konferenz bleiben die meisten Interessenten am Ball, indem sie die momentan 127 Worthaus-Vorträge nachhören, die sich bereits online befinden, sich aber darüber hinaus oft auch in anderer Form engagieren. 4'400 Abonnenten auf dem entsprechenden Youtube-Kanal und bis zu 70'000 Aufrufe bei den dort verlinkten Vorträgen unterstreichen deutlich, dass die diesjährige Konferenz in Tübingen kein Ausreisser ist. Die hohe Akzeptanz liegt offensichtlich nicht an einem besonders «hippen» Event, sondern daran, dass das scheinbar so unzeitgemässe Thema in einer intellektuell ehrlichen und offenen Atmosphäre die Hörerinnen und Hörer interessiert und berührt. Dazu gehört besonders auch der Dialog mit säkular und andersdenkenden Menschen.

Die Geschichte

Worthaus begann mit der Anfrage von Martin Hünerhoff an den Religionspädagogen Siegfried Zimmer, das einem grösseren Publikum vorzustellen, was er bis dahin in einzelnen Vorträgen oder den Ludwigsburger Nachteulen-Gottesdiensten (vor bis zu 1'000 Besuchern) referiert hatte. 2011 begann dann die Geschichte von Worthaus – mit 40 Interessenten in Weimar. 2019 in Tübingen hatten sich 640 Personen angemeldet, nachdem die Worthaus-Community in den Jahren dazwischen durch Podcasts, Youtube-Vorträge und regelmässige Auftritte beim Freakstock deutlich angewachsen war.

Die Bewegung wird dabei in der christlichen Szene durchaus kontrovers wahrgenommen. Während die einen kritisch fragen: «Spaltet die Worthaus-Theologie?» (Markus Till im Nachrichtenmagazin idea), begrüssen andere sie als lebensverändernd: «Ich habe gefunden, was ich schon ganz lange gesucht habe: eine Tür zu einem befreiten Christsein, nach dem ich mich schon mein Leben lang sehne» (Franziska).

Das Anliegen

DIE Worthaus-Theologie gibt es nicht. Das Anliegen der Initiatoren ist es vielmehr, Denken und Glauben miteinander ins Gespräch zu bringen – ohne Tabus, ein geschichtliches Bibelverständnis zu zeigen, das in die Tiefe und in die Weite führt, den christlichen Glauben von heute und für heute neu zu denken, als etwas Dynamische zu begreifen und immer wieder den Blick über den eigenen Tellerrand in andere Fachbereiche, Religionen und Erfahrungen zu wagen.

Die verschiedenen Referentinnen und Referenten haben dabei keine einheitliche Meinung, aber Thorsten Dietz, Heidrun Mader, Peter Wick und alle anderen agieren in grossem Respekt voreinander und im gemeinsamen Bestreben, «die Bibel nicht wörtlich, sondern ernst zu nehmen». Martin Hünerhoff erklärte dies in Tübingen etwas provozierend: «Wir bewegen uns an der Schnittstelle zwischen Unitheologie und dem Rest der Welt. Wir verfolgen nicht eins zu eins eine bestimmte Richtung. Wir wollen Breite, Anregung, Inspiration. Widerspruch ist möglich und gewollt. Allerdings ist es uns schon wichtig, keine Extrempositionen zu fahren, stattdessen nehmen wir den 'breiten Weg'.»

Der Erfolg

Die Stimmen von Hörerinnen und Teilnehmern zeigen, dass dieses Konzept aufgeht. Pastoren und Hausfrauen, Theologiestudentinnen und Grafikdesigner gehören zum überwiegend jungen Publikum. Sie alle eint die Sehnsucht nach einer Kirche und einem Glauben, in denen mehr Platz ist: für Brüche und Widersprüche, unterschiedliche Auffassungen und immer wieder das alte Konzept von Gottes Gnade. Für ein unkonventionelles Denken, wie es zum Beispiel Professor Wick in seinem Vortrag über Wunder in Worte fasste: «Wenn wir über Wunder sprechen, sprechen wir über den intervenierenden Gott, der sich nicht an die Ordnung gehalten hat – nicht einmal an seine eigene!»

Was für manche Christen ungewohnt und fast bedrohlich fremd klingt, ist für viele andere ein ganz neuer Zugang zum Glauben. Und manchmal seine Rettung. Wie bei einer Teilnehmerin, die vor ihrer Frage an einen Referenten erst noch einmal feststellte: «Ich hätte meinen Glauben fast aufgegeben, aber dann habe ich Worthaus gefunden.» Sie spricht damit für viele!

Die Vorträge von Worthaus 9 werden im Laufe der nächsten Monate auf der Worthausseite und den anderen Internetplattformen zum Nachhören veröffentlicht.

Zur Webseite:
Worthaus

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Datum: 13.06.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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