Segen der Verletzlichkeit

Nur wer verwundet ist, kann heilen

Muss man stark sein, um anderen in ihrer Schwäche zu helfen? Nein, im Gegenteil. Manchmal muss man Schwäche selbst erlebt haben, um glaubwürdig zu sein, um verstehen und heilen zu können.
Frau senkt den Kopf
Robert L. Briggs

Wer für eine grosse Herz-OP in die Klinik muss, sucht sich dazu sicher eine ausgewiesene Fachfrau bzw. einen Fachmann aus. Wie viel Erfahrung haben diese Herzchirurgen? Wie viele vergleichbare Fälle haben sie schon behandelt? Wie war ihre Erfolgsquote? All diese Fragen sind verständlich und sehr relevant. Eine wird praktisch nie gestellt: Wurde die Ärztin oder der Arzt selbst bereits am Herzen operiert?

In diesem Punkt unterscheidet sich rein medizinische von seelsorgerlicher oder psychologischer Hilfe. Denn dort gehen viele Menschen davon aus, dass jemand mit ähnlichen Erfahrungen wie sie selbst ihnen besser helfen kann. Und Fachleute stützen seit Carl Gustav Jungs Zeiten seine These vom «verwundeten Heiler».

Die Welt ist voller Verletzungen

«Das tiefste Leid, das ich je erlebt habe, sah ich in der Demokratischen Republik Kongo. Dort habe ich die Verderbtheit der Menschheit aus nächster Nähe gesehen.» Das berichtete Robert L. Briggs, Präsident der Amerikanischen Bibelgesellschaft, und er beschrieb Szenen des Grauens aus über 20 Jahren des «blutigsten Konflikts in der Geschichte Afrikas, der mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet und die Herzen unzähliger Menschen gebrochen hat».

Und dann erzählte er vom Dienst einer einheimischen Mitarbeiterin. Moambi musste viele traumatische Erfahrungen machen. Heute hilft sie anderen, die ähnliches erlebt haben – sie kann sie verstehen. Und wenn sie anfängt, davon zu sprechen, dass Gott befreit und heilt, dann ist es allen klar, dass sie weiss, wovon sie spricht. Sie hat es selbst erlebt.

Durch seine Wunden geheilt

Mit einem Blick in die Bibel fragte Briggs: «Ist das nicht die Lektion, die uns Christus lehren wollte?» Tatsächlich ist an vielen Stellen der biblischen Bücher von Verletzungen, Leid und Problemen die Rede. Oft geht es auch darum, dass Gott sich dieser annimmt – doch in erster Linie nicht dadurch, dass er alles Böse beseitigt. Stattdessen gibt es in der Bibel mehrere Texte, die Gott selbst als Leidenden vorstellen. Jesaja singt in seinen Gottesknechtsliedern davon: «Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten ihn nicht.» (Jesaja, Kapitel 53, Vers 3) Diesen Weg ging Jesus. Er klagte, litt und weinte und wurde schliesslich hingerichtet, obwohl er es hätte vermeiden können. Gerade deswegen gilt bis heute für die Menschen: «Durch seine Wunden sind wir geheilt worden.» (Jesaja, Kapitel 53, Vers 5)

Bis heute Ansatz für Therapie und Seelsorge

Paulus sah diesen Zusammenhang, als er den Korinthern erklärte: «Gelobt sei der […] Gott alles Trostes, der uns tröstet in all unserer Bedrängnis, damit wir die trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, durch den Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden.» (1. Korinther, Kapitel 1, Verse 3-4) Das eigene Erleben (und Leiden) ermöglicht es uns, andere besser zu verstehen und ihnen zu helfen.

Der Begründer der analytischen Psychologie, C. G. Jung, führte einen ähnlichen Ansatz in die therapeutische Behandlung ein. Er unterstrich: «Man kann die Wunden anderer nur heilen, wenn man selbst welche hat.» Ist es also ein Manko, wenn Psychiater und Psychologen ihr Fach aus eigener Betroffenheit studieren? Für Jung nicht.

Der Autor und Seelsorger Henri Nouwen sah diese Aspekte. Er verwies immer wieder auf Gott, der unser Leid mitträgt, und auch er unterstrich: Anderen helfen kann nur, wer dazu bereit ist, selbst verwundet zu werden. «Wer kann ein Kind aus einem brennenden Haus retten, ohne das Risiko einzugehen, von den Flammen verletzt zu werden? Wer kann sich eine Geschichte über Einsamkeit und Verzweiflung anhören, ohne das Risiko einzugehen, ähnliche Schmerzen in seinem eigenen Herzen zu erfahren und sogar seinen kostbaren Seelenfrieden zu verlieren? Kurzum: Wer kann das Leid wegnehmen, ohne es zu betreten?» (Henri Nouwen, Geheilt durch seine Wunden).

Zum Thema:
Erfahrungen als Wegweiser: Auf der Suche nach dem persönlichen Lebensauftrag
Talent auf festem Grund: «Du hast nicht genug; warum hilfst du anderen?»
Mit Leid leben: Ein Helfer in den schlimmsten Zeiten

Datum: 19.01.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung