Abgesoffen!
«Ich möchte direkt zur Sache kommen. Es gibt keine Perspektive, Ihren Job weiterhin aus Deutschland auszuüben, da wir uns in Zukunft auf andere Standorte konzentrieren. Die Personalabteilung wird gleich den Aufhebungsvertrag mit Ihnen durchsprechen. Sie haben eine Woche Zeit zu unterschreiben.» Die Botschaft war eindeutig. Gleichzeitig waren die Konditionen des Aufhebungsvertrags gut und boten mir finanzielle Sicherheit. Und so fühlte ich mich an diesem Tag tatsächlich frei – es war der Sprung aus dem sicheren Schiff meines Arbeitgebers in ein offenes, unbekanntes Meer.
Plötzlich am Schwimmen
Der harte Aufprall auf dem Wasser war der Tag, an dem ich meinen Laptop abgeben musste und sich die Firmentür mit einem leisen Klack hinter mir schloss. Fast zehn Jahre Firmenzugehörigkeit gingen so zu Ende. Ich hatte das Privileg, eine Arbeit zu haben, die mir wirklich Freude gemacht hatte. Viele grossartige Kollegen würde ich nun nicht mehr täglich treffen.
Im Wasser angekommen, begann ich zu strampeln. Als Macher-Typ schickte ich eine Bewerbung nach der anderen raus. Doch das rettende Ufer blieb ausser Sicht, ich kassierte eine Absage nach der anderen. Aber es stand ja noch der Sommerurlaub an – eine willkommene Abwechslung.
Zwei rote Streifen. Auf der Rückreise aus dem Urlaub war es heiss. Ich dachte, meine Erschöpfung lag an Dehydrierung. Doch als das Muskelbrennen auch nach einigen Tagen nicht nachliess, machte ich einen Corona-Test: positiv. Lieblingsviren habe ich keine, aber nach meiner Long-Covid-Erkrankung vor zwei Jahren standen diese definitiv ganz unten auf der Beliebtheitsskala. Arbeitslos und Long-Covid? Das konnte doch nicht wahr sein! Eine brutale Müdigkeit überrollte mich. Abends um acht fielen mir die Augen zu, auch tagsüber schlief ich mehrmals ein. Bewerbungen schreiben? Keine Chance, mehr als 30 Minuten am Computer schaffte ich nicht. Mein Arzt sagte: «In Ihrer Situation rate ich Ihnen, dieses Medikament zu probieren, es hat vielen Long-Covid-Patienten geholfen. Zu Beginn kann es zu leichten Unruhezuständen kommen, aber diese klingen ab.»
Hilfe, ich gehe unter!
Unruhezustände? Panik-Attacken! Ich wachte nachts mehrmals auf, stand kerzengerade im Bett, mein Herz pochte. Tagsüber war ich verwirrt. Beim Versuch zu kochen sah ich zwar, wie das Essen in der Pfanne anbrannte, aber ich konnte mich einfach nicht mehr koordinieren. Hilfe! Ich werde noch verrückt! Job weg, Kraft weg, Verstand weg! Hilfe, ich saufe ab!
Was nun? Natürlich wusste ich, was ein guter Christ in dieser Lage tun und denken soll: «Bete, vertrau auf Gott, Gott ist immer bei dir, Gott liebt dich.» Ja, das ist alles wahr. Aber ich blieb in einem Zustand, in dem diese Weisheiten mein Herz nicht mehr erreichten und nur noch wie hohle Sprüche klangen. Trost fand ich in den Klagepsalmen. Klagen war für mich bisher der Zwillingsbruder des Jammerns. Doch Jammern ist etwas für Weicheier, und mit der ablehnenden Haltung zum Jammern hatte ich auch die Klage aus meinem Leben verbannt. Der Unterschied für mich: Jammern ist das selbstzentrierte, weinerliche Beschweren über eine Situation. Klagen hingegen ist das ehrliche Aussprechen einer schwierigen Situation vor Gott, so wie es König David tat. Davon durfte ich lernen. Und allein die Vorstellung, zusammen mit ihm und den Betern klagend vor Gott zu stehen, hat mich aufgerichtet.
Viele Klagepsalmen haben ein bestimmtes Muster: 1) Klage und Not, 2) Bekenntnis des Vertrauens, 3) Lob und Dank. Ein Psalm jedoch fällt aus der Reihe, Psalm 88 von Heman. Er war einer der Hauptmusiker und Sänger am Tempel von Jerusalem. Wir wissen nicht, welches Leid ihm widerfahren ist, aber es muss ihm ziemlich dreckig gegangen sein. Denn sein Klagepsalm ist vermutlich der düsterste unter den Psalmen, vielleicht sogar das dunkelste Kapitel der gesamten Bibel. Er lässt in diesem Psalm in Vers 7 und 10 seiner Klage und negativen Emotionen freien Lauf: «Du (Gott) hast mich in eine abgrundtiefe Grube gelegt. […] Vor lauter Elend werden meine Augen schwächer.» Anders als bei den anderen Klagepsalmen findet er während des Psalms nicht zur Hoffnung zurück, denn der Psalm endet mit: «Mein einziger Vertrauter ist die Finsternis.» (Vers 19)
Gebeugt und im Dunkeln
Finsternis ist tatsächlich das letzte Wort dieses Psalms! Aber warum hat mir das dunkelste Kapitel der Bibel in meiner dunklen Zeit geholfen? Wie hat es den Phrasen «Bete!», «Vertrau auf Gott!», «Gott sieht dich!», «Gott liebt dich!» neues Leben eingehaucht? «Bete!»: Das kann auch Klagen bedeuten.
Viele junge australische Männer leiden an psychischen Problemen. Eine Theorie besagt, dass dies mit der dort verbreiteten «Take it easy»-Lebenseinstellung zu tun hat. Es gibt sicherlich viel Gutes an dieser Einstellung. Was aber, wenn es wirklich mal richtig hart wird? «Take it easy» funktioniert dann anscheinend nicht mehr und trifft viele unvorbereitet. Gott hingegen ist ehrlich. In Vers 16 lese ich: «Von Jugend auf bin ich vom Leid gebeugt.» Das heisst: Auch wer sich an Gott hält, kann sehr lange durch sehr schwere Zeiten gehen. Neue Tiefe I: Würde die Bibel Schmerz aussparen, wäre sie nicht vertrauenswürdig. Aber sie sagt, was wahr ist, nicht was schön ist, und deshalb kann ich ihr tiefer vertrauen.
In seiner Klage geht der Kläger alles andere als zimperlich mit Gott um: Generalisierungen, Du-Botschaften, Zynismus – jeder Kommunikationsexperte würde direkt sagen, dass man so nicht reden sollte. Und das auch noch mit Gott! Aber er redet mit Gott. Und ich glaube, das ist es, was unserem Gott wichtig ist. Unser Gott ist ein Gott der Beziehung. Eine leere Seite im Buch der Psalmen wäre für ihn schlimm, die Gefühle des Beters hält er aus. Während meiner dunkelsten Phasen habe ich gemerkt, wie mein Zustand meine Umgebung überfordert hat. Neue Tiefe II: Wenn Gott die Gefühle von Heman aushält, dann hält er auch mich aus. Ja, Gott ist immer bei mir, auch wenn es aus menschlicher Sicht nicht mehr auszuhalten ist.
Am Tiefpunkt Gott erlebt
«Mein einziger Vertrauter ist die Finsternis», das ist der letzte Satz von Psalm 88. Noch jemand hat totale Finsternis erleben müssen: «Und es war schon um die sechste Stunde, da kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde» (Lukas Kapitel 23, Verse 44-45). Aber warum kam die Finsternis? «So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.» (Johannes Kapitel 3, Vers 16) Wie viele Male habe ich beide Bibelstellen gelesen oder gehört. Aber zusammengebracht habe ich sie noch nicht. Gott liebt mich? Das klingt gut! Ewiges Leben? Gerne! Aber was steht hinter dem «Sohn gegeben»? Wie dunkel war die Dunkelheit, die er ertragen musste? In meiner Dunkelheit habe ich den Hauch einer Ahnung bekommen, wie dunkel es für Jesus war. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn (in die Dunkelheit) gegeben hat. Neue Tiefe III: Ja, jetzt verstehe ich wieder – und tiefer als je zuvor: Gott liebt mich. Und das erste Mal seit Monaten weine ich keine Tränen der Trauer, sondern der Dankbarkeit.
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Datum: 16.06.2025
Autor:
N.N. (Autor will anonym bleiben)
Quelle:
Magazin MOVO 02/2025, SCM Bundes-Verlag