«Alles, was KI kann, hat sie von Menschen gelernt…»
wort+wärch: Philipp, stell dich bitte kurz vor.
Philipp Gysel: Ich bin in Nidau aufgewachsen und habe mich früh für Technik interessiert – auch durch mein Umfeld im EGW Biel. Nach dem Studium der Elektrotechnik an der Fachhochschule in Biel habe ich meine Masterarbeit in den USA geschrieben – zum Thema Künstliche Intelligenz. Inzwischen arbeite ich bei Thomson Reuters, einem global tätigen Unternehmen aus Kanada, das digitale Lösungen u.a. für Anwaltskanzleien, Buchhaltungen und Steuerexperten anbietet.
Was ist dein Aufgabenbereich als AI Senior Research Engineer?
Ich übernehme technische Verantwortung in einem Forschungsteam, das daran arbeitet, die bestehenden Produkte von Thomson Reuters durch KI zu verbessern. In unseren Zielbranchen gibt es sehr viel repetitive, zeitintensive Arbeit. Diese lässt sich durch den Einsatz von KI vereinfachen oder automatisieren – sei es bei der Analyse von Finanzdokumenten, beim Erstellen von Rechtsverträgen oder bei der strukturierten Auswertung komplexer Daten. Immer mehr Prozesse innerhalb der Softwareentwicklung greifen heute auf KI zurück.
Viele Menschen haben ein vages oder auch verängstigtes Bild von KI. Was steckt dahinter?
KI ist keine neue Erfindung. Erste Experimente gab es schon in den 1960er-Jahren. Damals scheiterte man aber an mangelnder Rechenleistung. Einige Meilensteine waren IBMs «Deep Blue», das 1997 den besten Schachspieler schlug, oder Googles «AlphaGo», das 2017 im Strategiespiel Go gegen den Weltmeister gewann. Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022 – ein Produkt der in San Francisco ansässigen Firma OpenAI – hat sich die Wahrnehmung stark verändert. Es gibt heute über 400 Millionen wöchentliche User. ChatGPT gehört zur sogenannten «generativen KI» – ein Teilgebiet, in dem nicht nur analysiert, sondern Inhalte wie Texte, Bilder, Musik oder sogar Videos erzeugt werden. Die KI-Modelle, welche dieser KI zugrunde liegen, heissen Large Language Models, diese ChatBots werden auf dem (gut gefilterten) Inhalt des Internets trainiert… Auch in der Schweiz wird KI bereits aktiv eingesetzt, z.B. bei MeteoSchweiz zur Verbesserung von Wetterprognosen, bei der Mobiliar zur schnelleren Bearbeitung von Schadensfällen oder bei RepRisk zur Analyse des Images einer Firma.
Was verunsichert die Menschen am meisten – auch in christlichen Kreisen?
Ich sehe vier Hauptgründe: Erstens ist KI in Bereichen erstaunlich gut, die wir bislang als exklusiv menschlich betrachtet haben – Sprache, Kreativität, sogar Kunst. Das erschüttert Selbstverständnisse. Zweitens tun wir uns in der Schweiz traditionell schwer mit schnellen Veränderungen – Innovation passiert bei uns langsamer als in den USA oder den Niederlanden. Drittens wird KI unsere Wirtschaft stark verändern: Viele Büroarbeitsplätze werden sich wandeln. Dies erfordert Flexibilität für den Arbeitnehmer – stärker als bisher. Viertens verbringen Menschen heute meiner Meinung nach zu viel Zeit mit digitaler Unterhaltung – und KI könnte diese Tendenz noch verstärken.
Man kann aber gegensteuern: Etwa indem wir für Kunst ein «No-KI»-Label einführen. Ich persönlich möchte keine Bücher lesen, die von Maschinen geschrieben wurden. Wenn wir langfristig wirtschaftlich überleben wollen, brauchen wir Innovation. KI bringt Risiken, ja – aber auch enorme Chancen. Wer KI gezielt im Beruf nutzt, kann repetitive Aufgaben abgeben und hat mehr Zeit für menschliche Kommunikation, Kreativität und Beziehungspflege. Wir sollten bewusst offline-Zeiten einplanen – das betrifft nicht nur die Jungen, sondern auch viele Senioren.
Was sind für dich die grössten Chancen von KI im Alltag?
KI kann uns viel Fleissarbeit abnehmen – sowohl privat als auch im Beruf. Einen Geschäftsbrief schreiben? Eine E-Mail an eine Versicherung? In allem, was texten anbelangt, unterstützen die Apps. Zudem kann man sich mit KI auch einfache, kreative Dinge erleichtern – etwa personalisierte Gute-Nacht-Geschichten für Kinder schreiben lassen. Oder praktische Fragen klären: «Wie ziehe ich meine Fahrradbremse Typ X korrekt nach?» Wichtig bleibt: Alle KI-Antworten müssen kritisch überprüft werden. Fehler passieren oft.
Und die grössten Gefahren?
Es braucht einen funktionierenden Wettbewerb zwischen verschiedenen KI-Anbietern – sonst droht eine Monopolbildung mit Preisabsprachen oder ideologischer Verzerrung. Zudem laufen einsame Menschen Gefahr, sich an KI-Bots zu binden, statt reale Kontakte zu suchen. Und: Die Masse an generierten Inhalten macht es immer schwieriger, Qualität von «KI-Müll» zu unterscheiden – gerade bei Kunst, Videos oder Online-Artikeln. Ich persönlich möchte Inhalte, die von Menschen stammen.
Wie können Christusnachfolgende KI im Alltag oder ihrer Kirche nutzen?
Es gibt viele kreative Einsatzmöglichkeiten: Man kann Ideen für Kleingruppenabende in diversen Sprachen generieren lassen oder komplexe theologische Fragestellungen vorrecherchieren. Das ersetzt nicht die persönliche Auseinandersetzung, die Energie und Zeit, die ich in der Gemeinde investiere, aber es hilft beim Einstieg. Braucht man Ideen für ein Gemeindewochenende? In ein paar Sekunden hast du sie – so kann KI eine sinnvolle Inspirationsquelle sein.
Welche Tools oder Apps empfiehlst du?
Grundsätzlich gibt es zwei grosse KI-Kategorien: Text- und Bildgeneratoren. Bei den Chatbots bieten u. a. OpenAI (ChatGPT), Google (Gemini), Anthropic (Claude), xAI (Grok) und DeepSeek gute Lösungen an – viele mit Gratis- und Pro-Versionen. ChatGPT ist eher politisch links positioniert und stark auf Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion ausgerichtet, während Grok eher ungefiltert und politisch rechts ist. Ich selbst nutze oft Gemini.
Was rätst du Menschen, die mit der schnellen Entwicklung überfordert sind – insbesondere älteren?
Der einfachste Weg ist, mal einen Enkel oder eine jüngere Person zu fragen, ob sie einem so eine App zeigen kann. Dann kann man selbst entscheiden, ob man sie ausprobieren möchte. Es ist aber völlig legitim, ohne Chatbots zu leben. Auch das ist ein bewusster Entscheid.
Zum Schluss: Wie sieht dein persönlicher Umgang mit KI aus – im Spannungsfeld zwischen Technikbegeisterung und christlichem Menschenbild?
KI kann viel, aber sie ist kein Mensch. Alles, was sie kann, hat sie von Menschen gelernt. Ich halte nichts von Visionen, in denen Mensch und Maschine miteinander verschmelzen. Transhumanistische Ideale sind angsteinflössend. Krallen sie sich vielleicht deshalb so hartnäckig in unseren Köpfen fest? Der Mensch hat einen einzigartigen Wert – gerade, weil er nicht perfekt ist. Diese Würde sollten wir bewahren.
Drei Grundsätze für den Alltag?
Erstens: Gib der KI eine faire Chance und experimentiere. Zweitens: Überprüfe jede Antwort kritisch. Und drittens: Nutze es gezielt – und nicht als Dauerberieselung.
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Datum: 15.09.2025
Autor:
Phil Wasem
Quelle:
wort+wärch (EGW)