Religiös und anders gläubig

Religiös und anders gläubig
Private Religiosität
Patchwork mit Kindern
Grösste Gruppe: die Kultur

Wer sie noch sehen will, muss sich sputen: Am 28. Oktober schliesst die Ausstellung „Glaubenssache“ in Lenzburg. Sie lässt die unbeschreibliche religiöse Vielfalt in der Schweiz erahnen.

Sie begrüssen den Morgen, indem sie unter der Haustür Reis ins Freie werfen. Mit diesem aus der Mongolei stammenden schamanischen Ritual wollen Susanna Mäder und ihre Tochter „der göttlichen Kraft etwas zurückgeben“. Maren Thirumaran geht mit seiner Frau abends in den Hindu-Tempel, weil dort Essen verteilt wird und es auch hübsche Frauen zu sehen gibt. Gebi Küng erlebt das Zen-Sesshin als Gelegenheit, „fast geschützt in sich hinein“ zu gehen.

Private Religiosität

Die drei Personen geben in der Ausstellung „Glaubenssache“ des Stapferhauses Lenzburg Auskunft. Die Ausstellung, die am 28. Oktober nach genau einem Jahr schliesst, sucht die vielfältige Religiosität von Schweizern und hier lebenden Ausländern abzubilden. Was Zugewanderte glauben, gibt zwar derzeit – vor allem der Minarette wegen – zu reden, ist aber für die Schweizer Religionslandschaft nicht so bedeutsam wie die enorme Auffächerung der Religiosität der Einheimischen. Es ist ein Verdienst der Lenzburger Ausstellung, dass sie dies einfühlsam und eingängig, aber nicht zu plakativ darlegt.

Patchwork mit Kindern

Susanna Mäder flötet am frühen Morgen; so kann sie sich „mit dem Tag verbinden“. Was sie Gebet nennt, soll ihr in der Morgenmeditation helfen, sich „an die Ur-Energie anzukoppeln“. Ihr Mann ist Buddhist; für sich pflegt sie „einen Mix aus diversen Religionen“. Ihre Kinder liessen Mäders reformiert taufen, um ihnen den Zugang zur traditionellen Kultur zu erleichtern. Gebi Küng kommt zum Zen-buddhistischen Ritual ins Edlibacher Lassalle-Haus, um seinen „Geist zu beruhigen“ und loszukommen von Freude oder Angst. Werner Wüthrich (59) hat seit seiner Kindheit nicht mehr gebetet. Als seine Mutter vor dem Essen betete, fragte sich sein Kind verwundert, was sie denn aus dem Suppenteller lese…

Religions-übergreifende Aspekte

Um die kaum beschreibbare Vielfalt zu gliedern, haben die Ausstellungsmacher mit dem Münchner Religionspsychologen und katholischen Theologen Stefan Huber zusammengearbeitet und seinen „Religiositäts-Struktur-Test“ angepasst. Dieser Test will „Religiosität unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion“ messen. Es geht weniger um das, was geglaubt wird, als vielmehr darum, wie intensiv dies geschieht, wie sich die Menschen dabei verstehen und geben.

Grösste Gruppe: die „Kulturreligiösen“

Die Besucher der Ausstellung erfahren, nachdem sie an drei Monitoren Fragen beantwortet haben, auch selbst, welchem der fünf Huberschen Religiositäts-Typen sie zugehören. Von den (bisher 26‘000 ausgewerteten) Besuchern erweist sich fast die Hälfte als kulturreligiös. Ein Viertel sind patchworkreligiös, indem sie von einer höheren Macht ausgehen und dabei „frei kombinieren, was ihnen persönlich entspricht“.

Von ihnen unterscheiden sich Alternativreligiöse – offenbar bloss vier Prozent der Besucher – durch einen ausgeprägten Glauben an eine alles durchströmende Energie und die Wiedereinkörperung der Seele. Der Gruppe der Traditionsreligiösen – aller Religionen, auch der östlichen – ordnen sich 18 Prozent der Besucher zu, areligiös wie Werner Wüthrich sind 6 Prozent.

Dass Gläubige nicht für sich leben, sondern Gemeinschaften angehören oder wenigstens Strömungen zuzurechnen sind, machen auf der ersten Ebene der Ausstellung Spiegel deutlich, welche deren Anteile an der Wohnbevölkerung zeigen. (Unter den evangelischen Freikirchen sind mehrere Sekten, Mormonen inklusive, aufgeführt – was die beigezogenen Fachleute hätten korrigieren müssen.)

Weg vom Angestammten

Im übrigen fokussiert die Ausstellung auf das religiöse Selbstverständnis der Einzelnen (der Worship im icf Zürich und der Abend im Berner Hindu-Tempel werden in Kurzfilmen gezeigt.) Sie bildet damit die Privatisierung der Religiosität ab: Die Aussagen der Porträtierten bekommen den Rang individueller Bekenntnisse. Anschaulich wird dabei, wie weit sich Schweizerinnen und Schweizer von ihrer angestammten Konfession wegbewegt haben. Auch die grösste Gruppe der Kulturreligiösen lebt in Distanz zur Kirche, in einer „Position des Zuschauers“, für den die Kirchen durch ihre Werte und soziales Engagement noch eine gewisse Bedeutung in der Gesellschaft haben mögen.

Kommentar

Die meisten sind religiös – irgendwie

Von Peter Schmid

Was Religiositätstests wie der in Lenzburg eingesetzte mit ihrer Typisierung hergeben, darüber kann man streiten. Die religiöse Landschaft ist so unübersichtlich wie noch nie und verändert sich weiter. Beim Gottesbild findet die Vorstellung von einer Energie, die alles durchströmt, bereits mehr Zuspruch als das traditionelle Bild einer Person, zu der man sprechen kann.

Der mit Hubers Kriterien erstellte Glaubenstypen-Test nivelliert die (letzthin wieder stärker wahrgenommenen) Unterschiede zwischen den Religionen, indem er durchwegs von „Glauben“ spricht und individuelle, praktizierte Religiosität vergleicht. Eine Patchwork-Gläubige, eine Muslima und eine aktive Christin meinen nicht dasselbe, wenn sie von ‚Gebet‘ reden.

Eines wird deutlich: Die meisten Besucher sind nicht mehr gläubig in dem Sinn, dass sie Christus nachfolgen und ihre Mitgliedschaft in der Kirche mit einem biblisch verankerten, herzhaften, tätigen Glauben verbinden. Wenn man der Ausstellung glauben will, ist das Gegenteil der Fall: dass Millionen von Schweizern, das Segment der Kulturreligiösen, „weitgehend glaubensabstinent“ leben (so die zugespitzte Formulierung auf dem abgegebenen Blatt).

Bei allen Aussagen halten sich diese Menschen zurück (drei von fünf Schülern gehören dazu). Eher glauben sie an eine höhere Macht als an eine alles durchströmende Energie, sie beten eher als dass sie meditieren. Dass Gott in ihr Leben eingreift – nein, das kommt nicht vor. Mit ihrer unterkühlten Religiosität kommen die Mittelländer (42 Prozent der Besucher in Lenzburg kamen aus dem Aargau) offenbar ordentlich durchs Leben – „Angst machen Ihnen nur fundamentalistische Kräfte.“

Dies muss all denen zu denken geben, die zum Glauben an Christus einladen. Vor allem, weil zu dieser tiefsitzenden Reserve Erwartungen an die Gesellschaft kommen, wie sie namentlich die Patchwork-Religiösen hegen: Sie wünschen sich prinzipielle Offenheit gegenüber dem (religiös) Fremden. Dass Atheisten und Areligiöse sich heute, im Zug der Kreationismus-Debatte, in alter Schärfe zu Wort melden und eine Welt ohne jede religiöse Beeinflussung fordern, erhöht die Spannung, die durch den hierzulande herrschenden Kult der ‚Toleranz‘ entstanden ist. Denn jede Religion hat einen Wahrheitsanspruch, der über individuelle Religiosität hinausgeht. Gemeinschaft gibt es nur auf dem Boden eines solchen Anspruchs – aber ebendiesem verweigern sich viele. Damit können die grossen Kirchen auf Dauer nicht leben.

Es scheint, als würden die Schweizer Mittelländer mehrheitlich eine Religiosität mit wenig Gemeinschaft und möglichst vielen individuellen Optionen vorziehen. – Dass sie zu Zehntausenden Therapeuten aufsuchen, um reden zu können und ihrer Vereinsamung zu entgehen, steht auf einem anderen Blatt.

Die Ausstellung im Zeughausareal von Lenzburg dauert bis am 28. Oktober.

Links zum Thema:
Texte zur Ausstellung
Webseite der Ausstellung

Datum: 19.10.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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