Auswandererschicksale

«Warum habt ihr uns nicht gefragt…?»

Kinder von Siedlerfamilien sind auf der Suche nach Identität und Sinn. Für sie kommt erschwerend hinzu: Sie leben in zwei Welten, die Verbundenheit zum Land ihrer Vorfahren ist immer noch stark, sie fühlen sich oft «zwischen Stuhl und Bank». Das ist auch für Eltern und Grosseltern eine Herausforderung.
Marlyse Fankhauser-Aeschlimann mit Mutter Irène
Familie als «engere Heimat»: Philippe und Esther Aeschlimann-Stucki mit Melissa, Yasmine und Daniel

Wir wurden ja gar nicht gefragt, ob wir auswandern wollen», sagte Marlyse vor vielen Jahren einmal vorwurfsvoll zu ihrer Mutter Irène Aeschlimann. Im Gespräch mit der dritten Generation schmunzle ich über den wunderbar originellen Schweizer Dialekt. Ich kann die Irritation vieler Auswandererkinder nachvollziehen: Sie wachsen in einem andern Land und einer völlig neuen Umgebung auf, fühlen aber oft als Schweizerinnen und Schweizer. Und sie realisieren, dass der Begriff «Heimat» gefüllt werden muss. Wo gehören sie also hin? «Am Ende meiner Schulzeit besuche ich den Unterweisungskurs in der Schweiz. Dann sehe ich endlich meine Verwandten wieder einmal!», freut sich Yasmine, die älteste Tochter von Esther und Philippe Aeschlimann- Stucki. Ihre jüngeren Geschwister empfinden schon eher als Kanadier denn als Schweizer.

Ein intaktes Beziehungsnetz

Die beiden Söhne und die Tochter des Auswandererpaars Irène und Otto Aeschlimann sind wie die Eltern in der Landwirtschaft tätig. Zusammen haben die Familien eine Kooperative gegründet. Zum ursprünglichen Kerngeschäft, der Viehhaltung und dem Ackerbau, kam eine Geflügelzucht hinzu. Philippe, 42, leitet die Milchwirtschaft. Er kennt jede der rund 120 Kühe und 150 Jungtiere auch aus Entfernung mit Namen. Gerhard, 50, ist zuständig für die rund 32 000 Hühner («poulets») und 14 000 Truthähne. Beide Betriebe sind imposant in ihren Ausmassen, beeindrucken aber auch im Detail: Sauberkeit und Ordnung allerorten. «Wir verstehen nicht, dass Einheimische ihre Maschinen das ganze Jahr über draussen stehen lassen», sagt Otto Aeschlimann. Er und seine Frau Irène haben 1975 den Grundstein für die Farmgemeinschaft gelegt. Marlyse, die Schwester von Gerhard und Philippe, betreibt zusammen mit ihrem Mann Jakob «Kobi» Fankhauser die Farm «Fanka». Der Betrieb umfasst rund 300 Kühe und 150 Jungtiere. Der Arbeitsalltag ist intensiv. Er beginnt kurz nach vier Uhr und endet während der Erntezeit erst spät in der Nacht. Viele Einwanderer haben sich deshalb von der Viehwirtschaft abgewandt. «Wir haben wenig Ferien», bestätigt Marlyse. «Dafür einen Pool für die Familie und Gäste. Und ein Sprudelbad für uns beide», ergänzt Kobi. Fast ein Jahr standen sie in einer missionarischen Tätigkeit in Afrika. Sie haben ein weites Herz für Immigranten aus Moldawien, Russland, Haiti, Afrika und Südamerika. Ihre fünf Kinder sind bereits «ausgeflogen ». Die verschiedenen Familien von Aus- beziehungsweise Einwanderern pflegen untereinander einen recht engen Kontakt.

Geistliche Heimat gefunden

Alle drei Aeschlimann-Kinder sind in christlichen Kirchen engagiert. Interessanterweise fand jede Familie Anschluss an eine andere Gemeinde. Gerhard ist Vorsitzender der «église évangélique», die aus einer Gebets- und Bibelstundenarbeit seiner Eltern Irène und Otto hervorgegangen ist. Die Suche nach Identität ist keine einfache Sache. Auf die Bemerkung von Marlyse fand Irène Ae-schlimann damals eine relativ einfache Antwort: «Liebes, da wart ihr ja noch gar nicht auf der Welt!» Sie nahm ihre Tochter in den Arm und gab ihr, was letztlich nur eine Mutter in dieser Form geben kann: Geborgenheit – und damit das Gefühl von Heimat.

Neue Heimat Kanada
Die Schweiz – ein Einwanderungsland? In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war das Gegenteil der Fall: Schweizer wanderten zuhauf in alle Welt aus. Die Auslandschweizerorganisation ASO registriert eine halbe Million Schweizer auf allen Kontinenten.

Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von «ideaSpektrum Schweiz» zur Verfügung gestellt.

Datum: 24.07.2012
Autor: Thomas Feuz
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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