Ein Betroffener berichtet

Wieder einmal trifft es die Ärmsten am stärksten

Globale Inflation: Die Not in Westafrika ist gross. Pastor Joel berichtet, wie in der Elfenbeinküste ein junger Mann seine Schwester verkaufte, berichtet aber auch, wie die Kirche der zunehmenden Not begegnen will.
Auf einem Markt in Abidjan, Elfenbeinküste (Bild: Unsplash)
Pastor Joel Tia

Die ganze Welt ist von der Inflation betroffen und wieder einmal trifft es die Ärmsten am meisten – nicht zuletzt in Westafrika. Pastor Joel Tia Elvis ist Präsident der Apostolischen Protestantischen Kirche der Elfenbeinküste und lebt mit seiner Familie in der Hauptstadt Abidjan. Dem Schweizer Peter Seeberger, mit welchem Pastor Joel in regem Kontakt steht, berichtete er von der Situation in seinem Land.

Exorbitante Preisanstiege

«Tatsächlich sind die zahlreichen globalen Krisen in den meisten Ländern der Welt und insbesondere in Afrika das zentrale Thema, das die Menschen beschäftigt», erklärt Pastor Joel. Reis, Zucker, Mehl oder Fleisch wurden in gleichem Mass teurer wie Benzin und Transport. Die Preisanstiege während der letzten zwei Jahre belaufen sich auf weit über 20 Prozent. Für Millionen von Menschen, die ohnehin von der Hand in den Mund leben, ist diese Entwicklung existenzbedrohend. «Diese Inflation hat die Lebenshaltungskosten weit über das tragbare Mass verteuert und unsere Kaufkraft massiv geschmälert.»

Irgendwie überleben

Um überleben zu können, muss sich der grösste Teil der westafrikanischen Bevölkerung stark einschränken. Dies betrifft auch Pastor Joel. «Um meine Familie zu versorgen, verlassen wir uns auf die Treue des Herrn. Wir mussten aber auch drastische Schritte gehen und haben die täglichen drei Mahlzeiten auf ein Abendessen reduziert.» In dieser Notsituation sieht er sich ständig nach zusätzlichen Einnahmequellen um. Da die Gemeindeglieder kaum mehr in der Lage sind, für das ohnehin schon kleine Salär des Pastors aufzukommen, drängt sich dieser Schritt auf.

Leider wirkt sich die Krise schädlich auf die Kirche aus. «Viele Christen, besonders die Jungen, verlassen die Gebetstreffen, wandern aus oder verschaffen sich Geld durch Cyberkriminalität oder Prostitution.» Viele Pastoren seien demotiviert, weil sich niemand mehr um ihren Unterhalt sorgt. Und die Angst vor Terroristen, die Einschränkungen zur Covidbekämpfung und die erdrückenden Lebensunterhaltskosten haben den missionarischen Eifer der Gemeinden gedämpft.

Die Schwester verkauft

Pastor Joel erzählt von einem jungen Mann, der seine jüngere Schwester an Menschen verkaufte, welche die Frau den Ahnen opferten, um diese gütig zu stimmen. Sie alle wurden von der Polizei gefasst und sitzen jetzt im Gefängnis. Inzwischen ist es in der Elfenbeinküste zu einer gängigen Praxis geworden, reiche Leute mithilfe von «Wahrsagern» zu erpressen. So kommen übelste Praktiken auf, mit welchen sich Menschen etwas Geld verschaffen oder die Situation im Land zu ändern versuchen. Leider treibt die Armut viele Frauen in die Prostitution und okkulte Praktiken nehmen zu. Pastor Joel erwähnt, dass diese Dinge auch vor den Familien seiner Gemeindeglieder nicht Halt machen.

Die Kirche muss reagieren

«Die Reaktion der Kirche auf die Folgen dieser Krisen ist in erster Linie eine geistliche», hält Pastor Joel fest und zählt einige Punkte auf: «Die Lehre und biblische Ermutigung zum Glauben, das Leben in Heiligkeit und in der Furcht vor dem Herrn, in dem Wissen, dass wir hier auf Erden keine bleibende Statt haben.»

Um der Not zu begegnen, organisieren sich viele Kirchen in solidarischen Gruppen, in welchen sich ihre Mitglieder gegenseitig helfen. «Wir arbeiten zusammen, um den hohen Lebensunterhaltskosten zu begegnen und die Aufmerksamkeit der Behörden zu gewinnen.» Durch das Projekt «Cent Mille Fleurs» werden Christen in mehreren westafrikanischen Ländern ermutigt, sich in Solidaritätszellen von jeweils zehn Personen zusammenzuschliessen, um gemeinsam für den Ausstieg aus extremer Armut zu kämpfen.

Effiziente Armutsbekämpfung

Projekte wie «Cent Mille Fleurs», bei welchem Pastor Joel selbst massgebend involviert ist, sieht er als zukunftsweisend. Es geht darum, Geld nicht einfach an Notleidende zu verteilen, sondern über die Kirche gezielt und langfristig gewinnbringend zu investieren. Wenn Gelder aus dem Westen einfach verteilt werden, entstehen Abhängigkeiten. «Wenn die Gelder aber durch die Kirche dort eingesetzt werden, wo sie am meisten gebraucht werden, werden die lokalen Strukturen und die Rolle der Kirche als Dienerin an den Menschen gestärkt.» Gerade in den aktuellen Herausforderungen stossen die Solidaritätszellen an ihre Grenzen und sind auf finanzielle Unterstützung von Glaubensgeschwistern aus reicheren Ländern angewiesen.

Für seine Landsleute wünscht sich Pastor Joel «ein Leben, das von Recht und Gerechtigkeit getragen wird, ohne Korruption oder Gewalt, ein friedliches Leben. Und für die Christen wünsche ich mir ein erfülltes Leben in der Gnade des Herrn.»

Wie können Menschen in der Schweiz helfen?

Obwohl die globale Inflation auch in der Schweiz spürbar ist, fühlen hier aber doch viele Menschen eine moralische Verpflichtung gegenüber benachteiligten Menschen aus ärmeren Ländern. Doch wie kann geholfen werden? Pastor Joel ist überzeugt, dass die effizienteste  Hilfe ein Beitrag an die Sozialfonds der nationalen Kirchen ist. «Eine finanzielle Stärkung der Sozialfonds würde es uns ermöglichen, die Hilfe an Bedürftige auszuweiten.»

Im Netzwerk von «Cent Mille Fleurs» sind zuverlässige und fähige Leiter involviert. In der Schweiz kümmert sich ein Team um Peter Seeberger um die finanzielle Unterstützung von Solidaritätszellen in Westafrika.

Zur Webseite:
Cent Mille Fleurs

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Datum: 21.07.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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