Danken, feiern – und werben
Livenet: Die Heilsarmee bekam von ihrem Gründer eine kämpferische Stossrichtung. Ist sie noch eine Armee – oder entwickelt sie sich zu einer sozial stark engagierten Freikirche?
Oberstin Ines Adler: Diese Entwicklung fördern wir nicht. Die Heilsarmee ist von ihren Ursprüngen her etwas Spezielles. Ihre Prägung zu behalten ist allerdings nicht ganz einfach. Vom Militärischen distanzieren sich viele Schweizer. Mit einer Uniform ist man ausgestellt.
Wer Uniform trägt, tut kund, dass er ganz im Dienst steht. Diese Verbindlichkeit stammt aus der Gründerzeit…
Ja. Die Uniform unterstrich zudem die Gleichheit der Glieder der Heilsarmee: Reiche Leute und Menschen von der Strasse wirkten zusammen. Natürlich ging es auch um Sichtbarkeit. Sie zahlte sich aus.
Wie hat sich die Heilsarmee in Ihrer Zeit, in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Das Sozialwerk hat sich stark verändern müssen, schon wegen der Vorgaben der Behörden für Qualitätssicherung. Mit gutem Willen und brennendem Herzen allein lässt sich heute kein Sozialwerk mehr führen. Nicht nur Offiziere, sondern auch Angestellte leiten heute Heime; manche sind nicht Mitglieder der Heilsarmee. Wir sehen darauf, dass sie wenigstens unsere Gesinnung mittragen. Entscheidend ist die fachliche Qualifikation.
Die Korps, die Gemeinden, haben sich auch verändert. Vor 25 Jahren, als ich in Luzern arbeitete, war man noch sehr aktiv und machte Einsätze. Später hiess es, man könne nicht immer laufen, die Leute müssten doch auch auftanken können. Das pastorale Wirken, das Vermitteln geistlicher Nahrung und Gemeindeentwicklung wurden wichtiger. Das Kämpferische und das Hinaustreten, das für uns charakteristisch war, die evangelistische Aktion trat in den Hintergrund.
Auch früher war nicht jeder Heilsarmee-Offizier der begnadete Strassen- und Wirtshausevangelist…
…aber da es unser Grundauftrag war, machte es jeder. Die Offiziersehepaare waren (und sind) im Normalfall beide ausgebildet, geweiht und ausgesandt zum Dienst. Von Burnout sprach man damals nicht, aber etwas wie eine innere Kündigung kann es gegeben haben.
Kinder mögen sich, weil die Heilsarmee ihre Eltern überforderte, von ihr abgewandt haben.
Soweit ich es überblicken kann, ist es weniger die Heilsarmee, die (über)fordert. Die Offiziere sehen Aufgaben und setzen sich ein. Sie werden heute nicht mehr so häufig versetzt, je nach Befindlichkeit nach fünf bis sieben Jahren. Die Kinder müssen nicht so oft umziehen. Wir reden mit den Offizieren über den richtigen Zeitpunkt und versuchen auf die Schule Rücksicht zu nehmen.
Das Korps darf und soll sich an den Offizier gewöhnen, anders als früher, als dieser nach zwei Jahren wieder weiterzog…
Ja, vor Jahrzehnten ging es nicht so um Beziehungen zwischen Pastoren und Gemeindegliedern. Das Wirken nach aussen stand im Vordergrund.
Was denken Sie und andere Leiter der Heilsarmee über diesen Wandel? Braucht sie mehr Korpsgeist, Willen zum öffentlichen Auftreten?
Dem sollten wir wieder mehr Gewicht geben. Was in den nächsten Jahren möglich ist, muss sich zeigen. Die jungen Leute, die heute nachkommen, haben wieder vermehrt das Verlangen, sichtbar nach aussen zu treten. Das T-Shirt mit dem Heilsarmee-Schild wird attraktiv. Die Symbolik (Sonne, Krone des ewigen Lebens, Kreuz, S wie Salvation) soll der Profilierung dienen.
In der Zeit, da regelmässig in den Wirtshäusern und auf den Plätzen gesungen wurde, bekehrten sich hierzulande nicht Tausende von Menschen. Jedenfalls wissen wir nicht davon. Einzelne bewog die Wirtshausmission, Offiziere zu werden. Aber wir waren doch sichtbar tätig. Wir sangen Lieder, die Zeitschrift „Kriegsruf“ wurde weitergegeben – Gedankenanstösse für die Menschen.
Heute gibt es von Freikirchen kaum mehr Zeltmission, wenig Strasseneinsätze. In der Adventszeit stehen Ihre Offiziere und Salutisten beim Topf und spielen Blasmusik. Kam sich die Heilsarmee mit ihren Formen öffentlicher Evangelisation in den letzten Jahrzehnten alleingelassen vor?
Wir geben heute das Evangelium vermehrt in Beziehungen weiter. Wir führen Alphalive-Kurse durch. Das hat seinen Wert. Doch die Idee unseres Gründers: Wir gehen zu den Leuten; sie müssen nicht zu uns kommen – sie ist ein Stück weit verloren gegangen. Dabei haben wir das Plus, dass man uns dieses Heraustreten und Helfen zugesteht.
Verheissungsvoll sind Ansätze wie im Zellen-Korps in Huttwil, das Leute gewinnt. Wir wünschen, dass aus ihnen Heilssoldaten werden, die mit innerem Feuer evangelistisch auf Menschen zugehen und sie zu einer verbindlichen Beziehung mit Jesus einladen. So kommt frischer Wind in die Heilsarmee.
Ist die Heilsarmee in der Schweiz im letzten Vierteljahrhundert geschrumpft?
Ja. In diesem Jahr gehen erneut viele Offiziere in den Ruhestand; ich gehöre zu ihnen. Die Offiziersschüler können die Abgänge bei weitem nicht ersetzen. Im Moment stehen zwölf junge Menschen in verschiedenen Stadien der Ausbildung zum Offiziersdienst, die drei Jahre dauert. Auch da hoffen wir auf Neubelebung. Wir passen das Ausbildungsprogramm den heutigen Anforderungen an. Es ist nun modular aufgebaut. Ein Bachelor wird gewünscht; manche wollen ein Studium anschliessen.
Wenn die Landeskirchen fürs Theologiestudium mit dem Kinospot „Da kommen Sie auf die Welt“ werben, könnte dies die Heilsarmee erst recht tun…
Gewiss. Wir streben als ersten Schritt zu einer grösseren Attraktivität die Validierung unserer Ausbildung an. Das würde die Türe zu weiterführenden Studien öffnen. Schon jetzt sind viele Module für alle offen, also nicht nur für jene, die eine Berufung zum Offiziersdienst haben. A propos "... auf die Welt kommen": Die Kandidaten für die Offiziersausbildung bewähren sich als Soldaten. Wir setzen eine abgeschlossene Berufslehre oder ein Studium voraus und holen Referenzen ein. Die Bereitschaft, eine Uniform zu tragen und den Bedürfnissen des Werks entsprechend eingesetzt zu werden, sind Voraussetzung. Offiziere verzichten auf eine eigene Laufbahnplanung im herkömmlichen Sinn. Wir fördern heute die Weiterbildung und suchen unsere Leute entsprechend ihren Gaben und Wünschen einsetzen – aber es ist nicht immer möglich.
Gewähren Sie Auszeiten?
Seit einigen Jahren können Offiziere nach 15 und 30 Jahren im Dienst einige Monate aussetzen.
Wie reagieren Sie auf die geringere Zahl von Offizieren? Die Grundanforderung der Flexibilität – auch für Auslandseinsätze – wollen Sie nicht aufheben.
Die erwähnte Umgestaltung der Offiziersausbildung ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Aber um Offiziere zu gewinnen, müssen wir erst einmal Salutisten haben. Die jungen Leute, denen es bei uns gefällt, versuchen wir zu motivieren, Salutisten zu werden und eine Uniform anzuziehen. Wir freuen uns über alle Gottesdienstbesucher. Seit etwa zehn Jahren haben wir den engeren Freundeskreis: Christen, die unser Anliegen mittragen, ohne eine Uniform anziehen zu wollen, die zwischendurch auch ein Glas Wein trinken. Sie werden in einer kleinen Feier in den Freundeskreis aufgenommen.
Die Salutisten, die die Uniform nehmen und sich als Heilssoldaten einreihen lassen, identifizieren sich mit den Glaubensgrundlagen der Heilsarmee und versprechen schriftlich, dass sie sich an zehn Punkte halten (u.a. Abstinenz von Nikotin, Alkohol und Drogen, Unterstützung der Heilsarmee, Engagement in der Freizeit).
Sie haben die verheissungsvolle Entwicklung in Huttwil erwähnt. Sehen Sie auch im Sozialbereich Zukunftsweisendes?
Wir fördern die niederschwellige Sozialarbeit namentlich an Orten, wo wir Korps haben, aber keine Sozialinstitution: Mittagstische, Aufgabenhilfe für Kinder. Da und dort gibt es das „Tischlein deck dich“, die wöchentliche Lebensmittelverteilung für Minderbemittelte. Manche Korps arbeiten mit anderen Kirchen zusammen.
Wie geht es der Heilsarmee in der Schweiz finanziell?
Besser. Vor einigen Jahren hatten wir eine Durststrecke. Daraufhin haben wir Häuser verkauft, die uns viel Geld kosteten und nicht zum Kerngeschäft gehören, so das Parkhotel in Oberhofen am Thunersee. Ende 2005 erhielten wir ein grosses Legat. Die Mittel ermöglichen uns überfällige Sanierungen, die Bildung von Reserven und einzelne Neubauten (Basel, Bäretswil). In Österreich, das mit Ungarn zu unserem Territorium gehört, nehmen wir ebenfalls einen Neubau in Angriff: ein Wohnheim in Wien für Menschen, die nicht mehr für sich sorgen können.
Wie eng ist die Schweizer Heilsarmee international eingebunden? Kommt der General mehrmal jährlich zu Ihnen?
Nein, nein, er hat 111 Länder zu besuchen. Da reicht es für die Schweiz nicht jedes Jahr. Doch zu unserem 125. Jubiläum im Mai kommt General Clifton nach Bern (siehe unten). Wir haben schon vor Jahren angefragt; nun hat er, der das Amt seit dem letzten Frühjahr innehat, zugesagt. Der internationale Sekretär für Europa ist unser Verbindungsmann zum Stabschef und zum General.
Wie steht die Schweizer Heilsarmee im europäischen Vergleich da?
In der Schweiz sind wir stärker präsent, können Nöten besser begegnen als in anderen Ländern und stehen auf einer soliden finanziellen Grundlage.
Hat die Heilsarmee eine Strategie für Europa?
Das internationale Hauptquartier in London hat seit 1990 den Aufbau in Osteuropa vorangetrieben. Die Länder wurden einzelnen westeuropäischen Territorien anvertraut. Diese hatten die Verantwortung, personell und finanziell zu helfen. Uns wurde Ungarn angegliedert. Nachdem die Heilsarmee dort schon früher gearbeitet hatte, startete sie vor 15 Jahren neu. Österreich und Ungarn werden nicht nur aus der Schweiz, sondern auch von anderen Territorien unterstützt, auch aus den USA, dem stärksten Teil der Heilsarmee. Ich hoffe, dass nach dem Aufbau im Osten Westeuropa wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Die Heilsarmee hat eine globale Strategie, die in einer jährlichen weltweiten Solidaritätsaktion (Partners in Mission) für die Finanzierung ihrer Arbeit in Ländern des Südens zum Ausdruck kommt. Daran beteiligen sich alle Territorien, auch jene, die viel mehr aus dem Solidaritätsfonds erhalten, als sie einzahlen.
Die Schweizer Heilsarmee feiert ihr 125-jähriges Bestehen. Sie haben das Jubiläumsjahr unter das Motto des Dankens gestellt. Wofür sind Sie persönlich dankbar?
Ich persönlich? Dass ich in der Heilsarmee sein darf (lacht). Ich habe in der Heilsarmee Jesus kennengelernt. Es stimmt mich sehr dankbar, dass mir die Heilsarmee derartige Möglichkeiten gegeben hat, Gott zu dienen, als ledige Frau. Catherine Booth, die Tochter des Gründers, verkörpert dies. Offizierinnen durften von Beginn weg predigen, hatten dieselbe Stellung wie die Männer – als Leute noch die Hände verwarfen beim blossen Gedanken, dass Frauen Gottes Wort lehren. Schon damals übernahmen sie Verantwortung in der Gemeinde.
Dankbar bin ich für die grosse Unterstützung in der Schweizer Bevölkerung, die guten Beziehungen zu den Kirchen, die verbesserte Finanzlage – und auch für das Vertrauen, das wir bei den Behörden unseres Landes geniessen.
Wie blicken Sie in die Zukunft?
Wir wünschen uns mehr Salutisten und Offiziere. Wir überlegen, ob wir alle Zweige unserer Sozialarbeit langfristig weiterführen können. Kann es sein, dass wir einen Zweig abgeben, um neu einer aktuellen Herausforderung zu begegnen, sozusagen unten einzusteigen? Wir betreiben zum Beispiel Kinderkrippen, die wohlhabenden Paaren einen doppelten Verdienst ermöglichen? Ist das unser Auftrag? Ich kann heute dahinter stehen: Wir vermitteln den Kindern Geborgenheit. Aber das können auch Andere tun. Wir überlegen uns, wie wir neuen Formen der Armut begegnen, wo die Kompetenzen der Heilsarmee künftig besonders gefordert sind.
Oberstin Ines Adler ist als Chefsekretärin die operative Leiterin des Heilsarmee-Territoriums Schweiz-Österreich-Ungarn. Territorialleiter (Präsident des Strategierats) ist Kommissär Edouard Braun.
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125 Jahre Heilsarmee in der Schweiz: Jubiläum mit dem General
Am 19. und 20. Mai 2007 findet auf dem BEA Expo-Gelände in Bern ein Jubiläumskongress mit dem internationalen Leiter der Heilsarmee, General Shaw Clifton, statt. Am Samstagnachmittag werden ab 14.30 Uhr verschiedene Gruppen aus der ganzen Schweiz „mit fröhlichem Lärm für Gott“ die Plätze der Bundesstadt beleben. Im Anschluss daran findet die Glaubenskundgebung zwischen 15 und 16 Uhr ihren Abschluss auf dem Bundesplatz. Um 19.30 Uhr folgt eine Geburtstagsgala in der Festhalle Bern mit einem Rückblick auf 125 Jahre – und viel Musik.
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Homepage der Heilsarmee Schweiz: www.heilsarmee.ch
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Tätigkeitsfelder der Heilsarmee Schweiz
Evangelisationswerk
4 Divisionen (Regionale Leitungen, Projektbegleitung)
66 Korps (christliche Gemeinden mit sozialdiakonischem Auftrag)
15 Sozialprojekte (Beratungsstellen, Besuchsdienste, Passantenheime)
Jugend- und Kinderarbeit / Arbeitsbereich Gesellschaft & Familie / Bildungszentrum
Sozialwerk
9 Wiedereingliederungsheime / 6 Wiedereingliederungswerkstätten
7 Frauen- und Männerheime / 1 Passantenheim / 4 Alters- und Pflegeheime
8 Kinderkrippen und Kinderheime / 1 Jugendheim / 2 Gästehäuser
Gefängnisdienst / Nachforschungsdienst
Flüchtlingshilfe
Leitung und Projektbegleitung / Deutschkurse / Aufbausprachkurse
8 Durchgangszentren (Asylbetreuung Phase 1)
6 Professionelle Asyl Koordinationen auf Gemeindeebene, PAG (Asylbetreuung Phase 2)
Brockiwesen
Leitung und Projektbegleitung / Marketing
24 Brockis / 4 Betriebe (Verteilzentren und Abholdienst) / 1 Callcenter
Datum: 16.03.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch