"Die Mehrheit denkt schon längst christkatholisch"
Anders präsentiert sich die Situation beim kirchlichen Personal: Wie der Schweizer Nationalbischof Fritz-René Müller auf Anfrage erklärte, hat er seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren bereits 15 Anfragen von Geistlichen und Theologen erhalten, die einen Übertritt zu den Christkatholiken in Erwägung ziehen würden, wenn entsprechende Pfarrstellen frei werden sollten.
Der Ruf nach Reformen innerhalb der römisch-katholischen Kirche ist in jüngster Zeit in der Schweiz wieder lauter geworden, nachdem die Kirchenleitung in Rom in den vergangenen Monaten erneut mit Verlautbarungen und Verboten bei breiten Kreisen für Unmut gesorgt hat.
Frauenordination und freiwilliges Zölibat
Wenig bekannt ist indessen die Tatsache, dass die christkatholische Kirche, die dritte und kleinste Landeskirche der Schweiz, die meisten "Probleme" ihrer römisch-katholischen Schwesterkirche längst gelöst hat: Obwohl die sakramentale Ämterstruktur und die Liturgie der Christkatholiken – oder Altkatholiken, wie sie ausserhalb der Schweiz heissen – sehr grosse Ähnlichkeiten mit derjenigen der römisch-katholischen Kirche aufweist, gibt es hier keine Zölibatsverpflichtung für Priester und seit 1999 werden auch Frauen zum Priester- und Bischofsamt zugelassen.
Zudem zeigt die kleine Kirche viel Toleranz, wenn es um die Wiederverheiratung Geschiedener oder die Frage der Homosexualität geht. Und auch die Wahl des Bischofs ist bei den Christkatholiken Angelegenheit der Ortskirche: Wahlgremium ist die Nationalsynode, die nebst den Geistlichen zur Mehrheit aus Laien zusammengesetzt ist.
"Leidensdruck ist noch zu gering"
Vor diesem Hintergrund muss es eigentlich erstaunen, dass die unzufriedenen Gläubigen der römisch-katholischen Kirche nicht in Scharen zu den Christkatholiken übertreten. "Die Mehrheit der Gläubigen der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz denkt schon längst christkatholisch", meint Ioan Jebelean, christkatholischer Pfarrer in Luzern und gleichzeitig Vizepräsident der Nationalsynode: "Im konkreten Alltag kümmern sie sich wenig darum, was Papst Johannes Paul II. in Rom oder Bischof Kurt Koch in Solothurn sagen."
Damit sei der Leidensdruck für viele offenbar noch zu gering, dass sie einen Konfessionswechsel in Erwägung ziehen würden. Darin liegt wohl auch der Grund, weshalb sich die Zahl der Übertritte in einem überschaubaren Rahmen hält: Im vergangenen Jahr meldeten sich bei Pfarrer Jebelean 12 Personen, die ihren Eintritt in die christkatholische Kirche bekannt gaben.
Römisch-katholische Geistliche auf der "Warteliste"
Ähnlich sind die Zahlen auch in Zürich mit 60 Übertritten innerhalb von 5 Jahren oder in Basel, wo in den vergangenen 15 Jahren rund 120 Gläubige ihren Eintritt in die christkatholische Kirche erklärt haben, wie der christkatholische Bischof, Fritz-René Müller, auf Anfrage bestätigt.
Damit hat sich die Zahl der Gläubigen innerhalb der christkatholischen Kirche in den letzten Jahren kaum verändert: Die kleinste Landeskirche der Schweiz zählt heute lediglich 14’000 Mitglieder, obwohl gemäss Müller bei der letzten Volkszählung im Jahre 2000 über 120’000 Personen bei der Angabe ihrer Konfession versehentlich "christkatholisch" angekreuzt haben.
Anteilmässig wesentlich höher liegt aber der aktuelle Zulauf zur christkatholischen Kirche, wenn es um den Klerus geht: So sind bei Fritz-René Müller innerhalb von zwei Jahren – seit seinem Amtsantritt als Bischof der Christkatholiken – insgesamt 15 Anfragen von römisch-katholischen Geistlichen und Theologen eingegangen. Allerdings gibt es in der christkatholischen Kirche derzeit keinerlei Anzeichen eines Priestermangels, weshalb Bischof Müller die interessierten Personen wohl oder übel auf die "Warteliste" setzen muss.
Sechsfacher Vater wurde Pfarrer
Mehr Glück hatte Martin Bühler (58), ehemaliger römisch-katholischer Gemeindeleiter in Winterthur, der sich vor drei Jahren zu einem Übertritt zur christkatholischen Kirche entschieden hatte. Als sechsfacher Vater ist es ihm heute möglich, seine "doppelte Berufung zur Ehe und zum Priesteramt" bei den Christkatholiken leben zu können.
Auch wenn ihm dieser Konfessionswechsel nicht leicht gefallen ist – "es war für mich fast so etwas wie eine Scheidung" –, bereut er diesen Schritt keineswegs: "Ich empfinde es nach wie vor als menschenverachtend, wenn in der katholischen Kirche verheirateten Theologen, die eine Berufung zum Priestertum verspüren, die Weihe verweigert wird", meint Bühler, der heute als christkatholischer Pfarrer in Schaffhausen und Zürich tätig ist.
Martin Bühler ist kein Einzelfall: Von den gegenwärtig 50 Priestern der christkatholischen Kirche in der Schweiz waren deren 10 ursprünglich römisch-katholisch, während einer aus der orthodoxen und zwei aus der evangelisch-reformierten Kirche übergetreten sind.
Zu marginale Bedeutung - Pragmatische Basis: Rom nicht mehr ernstgenommen
Dass in der römisch-katholischen Kirche betreffend Reformen der Leidensdruck beim Personal offenbar wesentlich grösser ist als bei den Gläubigen in den Pfarreien, ist für den Freiburger Pastoraltheologen, Professor Leo Karrer, gut nachvollziehbar. "Die Leute an der Basis gehen in der Schweiz meistens einen pragmatischen Weg. Auf der Ebene des Handelns nimmt man die restriktiven Vorgaben der römischen Kirchenleitung nicht allzu ernst", meint Karrer.Gleichzeitig sei die christkatholische Kirche in der Schweiz von ihrer Grösse und ihrem Bekanntheitsgrad her zu marginal, dass eine grössere Zahl von römisch-katholischen Gläubigen ernsthaft einen Übertritt in Erwägung ziehen würde. Anders zeigt sich die Situation indessen beim kirchlichen Personal, wo Karrer in den vergangenen Jahren eine "zunehmende Beweglichkeit zwischen den Konfessionen" beobachten konnte.
Autor: Benno Bühlmann
Datum: 19.07.2004
Quelle: Kipa