"Treten Sie ein!"

Wie die evangelische Kirche um neue Mitglieder wirbt

Bundesfamilienministerin Renate Schmidt fand den Weg zurück in die Kirche.

Hannover. Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) hat 30 Jahre dazu gebraucht. In den 60er Jahren war sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten: "Ich habe zwischen dem Anspruch der Bibel und dem alltäglichen Handeln der Kirche eine zu grosse Diskrepanz gesehen." Doch Mitte der 90er Jahre kehrte sie zurück. "Ich bin eigentlich immer eine gläubige Christin gewesen." In schwierigen Zeiten gelte es nun, die Kirche zu unterstützen.

Wie Renate Schmidt treten derzeit jedes Jahr rund 60.000 Menschen in die evangelische Kirche ein. Etwa 15.000 Aufnahmen verzeichnet die katholische Kirche. Das ist immer noch wenig gemessen an den gewaltigen Austrittszahlen: Im Jahr 2000 kehrten rund 188.000 Protestanten und 129.000 Katholiken ihrer Kirche den Rücken. Rechnerisch verliert die evangelische Kirche somit jedes Jahr eine Stadt in der Grösse von Wolfsburg.

Im Schatten der Austrittszahlen wurden die Eintritte bisher nicht sonderlich beachtet. Neue Mitglieder schienen der Kirche durch die Kindertaufe automatisch zuzuwachsen. Wer ausgetreten war und wieder eintreten wollte, musste mit viel Aufwand rechnen: Voraussetzung war ein Gespräch mit dem Ortspastor. So mancher hielt das für eine Glaubensprüfung und liess es lieber bleiben.

In der Darmstädter Eintrittsstelle "Kirche&Co." erzählt man sich die Geschichte von dem Pastor, der sich zurücklehnte und zu einer Eintrittswilligen sagte: "Wie stellen Sie sich das vor? Wir sind kein Kaninchenzuchtverein!" Doch seit sich die zahlreichen Austritte schmerzlich in der Kirchenkasse bemerkbar machen, setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass sich die Kirche mit der Austrittsbewegung nicht einfach abfinden kann.

Bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum nahm der Münchner Religionssoziologe Gerald Kretzschmar jetzt die Eintritte genauer unter die Lupe. Er verweist auf den hohen Anteil der Erwachsenentaufen in der evangelischen Kirche, rund 23.000 pro Jahr. Vor allem Jugendliche kurz vor der Konfirmation und junge Erwachsene, die eine Familie gründen, gehen diesen Weg.

So liessen sich Angela und Klaus-Dieter Mehrfeld aus Hannover drei Monate vor ihrer Hochzeit taufen, weil die Braut nicht auf eine kirchliche Trauung verzichten wollte. "Ich wollte gern in Weiss heiraten." Die Doppeltaufe fand am Sonntagmorgen im engen Kreis statt. "Weil es ja ein bisschen peinlich ist, als Erwachsener getauft zu werden."

Laut Kretzschmar suchen jährlich auch rund 9.000 frühere Katholiken in der evangelischen Kirche eine neue Heimat. Um verlorene Mitglieder zurückzugewinnen, starten einige Kirchenkreise inzwischen Eintrittskampagnen wie "Treten Sie ein!" in Nürnberg mit Renate Schmidt. Vor allem aber hat ein neuer Boom die Kirchenlandschaft erfasst: "An allen möglichen Orten spriessen Eintrittsstellen aus dem Boden", erzählt Michael Wohlers, der seit Mai 2000 eine solche Stelle in Hannover leitet.

Die Vorteile dieser Stellen liegen auf der Hand: Sie sind anonym und jederzeit erreichbar. Wer eintreten will, kann selbst entscheiden, ob er es mit dem Ausfüllen eines Papiers über die Bühne bringen will oder ein seelsorgerliches Gespräch wünscht. "Es gibt Situationen, da kommen die Menschen ins Reden, und es fliessen Tränen", sagt Ksenija Auksutat, frühere Leiterin der ökumenischen Eintrittsstelle in Darmstadt.

Viele ältere Menschen wollen angesichts des Rentenalters oder der Goldenen Konfirmation ihr Leben ins Reine bringen, andere wegen einer Krankheit oder Lebenskrise. Einige sind angetan von einem kirchlichen Kindergarten oder der Jugendarbeit. Manchmal sind die Eintrittsgründe auch ganz formal: Menschen treten eine Arbeitsstelle bei der Kirche an oder wollen Pate werden.

Michael Wohlers verzeichnet in Hannover inzwischen 250 Eintritte pro Jahr, mehr als einer pro Öffnungstag. "Darunter sind viele, die berufstätig sind und Kirchensteuer zahlen." Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat angesichts der Eintritte mittlerweile ihr Mitgliedschaftsrecht geändert: In einer Eintrittsstelle kann man jetzt über frühere Grenzen hinweg Mitglied jeder deutschen Landeskirche werden.

Mit rund 125.000 Euro pro Jahr ist eine Eintrittsstelle allerdings ein teures Vergnügen, sagt Auksutat über ihr Darmstädter Projekt: "Der beste Weg ist immer noch, Austritte zu verhindern."

Datum: 17.02.2003
Quelle: Epd

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