Dalits in Indien: Befreiender Religionswechsel

Der Taufe im Wasserbecken…
…ging die ernste Frage nach der Bereitschaft voraus.
Prominent: Buddhistische Mönche weihten die zum Übertritt bereiten Dalits in ihre Religion ein.
Mit Buddhisten in einem Boot: John Dayal (links) und Joseph D’Souza suchen dem emanzipatorischen Werk von Ambedkar neue Stosskraft zu verleihen.
Blick über die Openair-Veranstaltung in Nagpur
Die Veranstalter hatten Vertreter des Islam (rechts) und anderer Religionen im Land eingeladen.
Öffentlich: Taufe im Becken, inmitten Hunderter von Zeugen.

Am 14. Oktober 2006 haben in einer multireligiösen Massenveranstaltung in Nagpur in Zentralindien über 500 Dalits die Religion gewechselt. Die einen wurden Buddhisten, die anderen liessen sich als Christen taufen. Dies geschah auf den Tag 50 Jahre, nachdem Bhimrao Ramji Ambedkar, der Architekt der indischen Verfassung und grosse Führer der Dalits, zum Buddhismus übergetreten war – und am selben Ort.

Die sechsstündige Grossveranstaltung in der Stadt Nagpur im Gliedstaat Maharashtra zog gegen 10'000 Dalits (früher Unberührbare genannt) aus zahlreichen Gliedstaaten an. Muslimische, buddhistische und christliche Leiter forderten umfassende Religionsfreiheit in Indien. Naseem Siddiqui, der Vorsitzende der Minderheitenkommission Maharashtras, erklärte: „Wir sind alle in eine Religion hineingeboren worden, aber wenn wir sehen, dass unsere Religion uns schadet, sollten wir jedes Recht haben, sie zu verlassen.“ Anwesend in Nagpur waren auch progressive Hindus sowie Vertreter der Gemeinschaften der Sikhs und Jains und 25 Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Die Freiheit in Anspruch nehmen

Durchgeführt wurde der „weltweite Tag der Gewissens- und Religionsfreiheit“ in Nagpur vom allindischen Dachverband der Organisationen der Dalits und Stammesvölker gemeinsam mit dem allindischen Christenrat AICC. Dessen Präsident Joseph D’Souza würdigte den epochalen Schritt Ambedkars. Er habe die Religionsfreiheit nicht bloss in die Verfassung eingeschrieben, sondern „uns auch gezeigt, wie wir diese Freiheit umsetzen können“. Vor 50 Jahren habe Ambedkar den Hinduismus hinter sich gelassen, was ihn viel gekostet habe. „Heute ermutigt es uns zu sehen, dass viele von euch diese Freiheit ausüben und einen Glauben wählen, der euch Würde und Achtung verleiht.“

Buddhistische Mantras – und das Unser Vater

Ambedkars Schritt 1956 – wenige Tage vor seinem Tod – löste eine Welle von einigen 100'000 Übertritten von Dalits aus, die seither Neo-Buddhisten genannt werden. Dasselbe taten nun in Nagpur weitere Dalits, um von der Unterdrückung loszukommen, unter der die Dalits im indischen Kastensystem seit Jahrtausenden leiden. Sie sprachen die Worte buddhistischer Mönche nach: „Ich bin nicht mehr ein Hindu. Ich werde keinen Hindu-Gott, keine Hindu-Göttin anbeten. Ich werde nie in einen Tempel gehen.“ Kurz nachdem die Mönche ihre Mantras beendet hatten, sprachen die Versammelten das Unser Vater.

(Weitere Feiern, an denen insgesamt mehrere tausend Dalits zum Buddhismus übertraten, fanden am 14. Oktober in anderen Orten des Landes statt, so in Gulbarga, Karnataka, und im Dorf Chak Hakee im Punjab.)

Verbote in mehreren Gliedstaaten durchgesetzt

Mehrere indische Gliedstaaten haben den Religionswechsel (namentlich zu Christentum und Islam) verboten oder strikt reglementiert. In Orissa, Madhya Pradesh, Arunachal Pradesh und Chhattisgarh werden diese Verbote durchgesetzt; Tamil Nadu krebst zurück. Der Gliedstaat Gujarat, dessen Hindu-Regierung 2002 der Ermordung mehrerer tausend Muslime durch extremistische Hindus zusah, hat kürzlich – zur Empörung der Betroffenen – ein weiteres Gesetz erlassen, das Buddhisten und Jains zu Hindus macht. Die Teilnehmer in Nagpur zerrissen und verbrannten solche Gesetze und versuchten eine Puppe von Gujarats Regierungschef Modi anzuzünden, was die Polizei jedoch verhinderte.

Frei die Religion wechseln

Udit Raj, der Führer des allindischen Dachverbands der Dalit- und Stämme-Organisationen, betonte in Nagpur, Übertritte (conversions) dürften weder erzwungen noch mit List herbeigeführt werden. „Heute haben wir einen geordneten Religionswechsel gesehen. Viele Dalits haben erkannt, dass sie im Hinduismus nicht als Menschen geachtet worden sind, die von Gott gleich geschaffen wurden. In aller Freiheit haben sie in den Spuren unseres Helden Dr. Ambedkar eine andere Religion gewählt.“ Udit Raj war selbst Ende 2001 in einer heftig umstrittenen Grossveranstaltung in Delhi, die der AICC mittrug, Buddhist geworden.

Die Sogkraft des Hinduismus

Die Grossveranstaltung an symbolträchtiger Stätte in Nagpur (in der Stadt hat auch die extreme Hindu-Kaderorganisation RSS ihren Sitz!) stellt einen weiteren Markstein auf dem Weg der Dalit-Bewegung dar, die für Gleichberechtigung kämpft. Eines ihrer Ziele ist die Anerkennung christlicher Dalits als eigener Gruppe, die ebenfalls mit einer staatlich garantierten Quote Studienplätze und Beamtenstellen beanspruchen kann. Wie der indische Bürgerrechtler John Dayal in einem Kommentar festhält, „folgt das indische Gesetz der Sogkraft des Hinduismus, indem es in der Vergabe verfassungsmässiger Rechte jeden als Hindu behandelt, der nicht Muslim oder Christ ist – und natürlich auch den, der zum Hinduismus übertritt. Aber wenn Dalits Christen werden, können sie ihre Stelle oder Studienplätze an technischen und medizinischen Colleges verlieren – und vielleicht auch ihre Freiheit…“

Dalits – seit Urzeiten unterdrückt

Jeder Sechste der bald 1100 Millionen Inder ist Dalit. Obwohl die Verfassung von 1950 Diskriminierung aufgrund der Kaste verbietet, verweigen Hindus höherer Kasten ihnen vielerorts den Zugang zum Tempel und zum Wasserteich, da sie sonst unrein würden. Täglich werden Dalits Opfer von Vergewaltigungen und Tätlichkeiten, und in den Augen vieler Hindus sind Dalits – Untermenschen gleich – für immer dazu bestimmt, Abfall zu sammeln, Latrinen zu putzen und Kadaver zu beseitigen. Ein sozial engagierter Flügel der Christen Indiens setzt sich seit einigen Jahrzehnten für die soziale Emanzipation der Dalits ein; die christlichen Schulen haben Wesentliches zur Stärkung ihrer Bewegung beigetragen. (Dass Ambedkar den Buddhismus wählte, hatte auch mit den Enttäuschungen zu tun, die er mit Kirchenführern seiner Zeit erlebte.)

Mayawati: Zuerst die Macht, dann der Religionswechsel!

Fast 50 Jahre nach Ambedkar ist vor wenigen Tagen Kanshi Ram gestorben, einer der führenden Dalit-Politiker Indiens. Er hatte mit seiner Mitstreiterin Mayawati mehrfach die Regierung im bevölkerungsreichsten Gliedstaat Uttar Pradesh übernehmen können. Kanshi Ram wollte noch Buddhist werden, starb jedoch zu rasch. Mayawati liess ihn nach buddhistischem Ritual kremieren – am selben Tag, auch in Nagpur, zum Gedenken an Ambedkar. Vor Anhängern ihrer Partei sagte sie, sie wolle die Zentralregierung in Delhi übernehmen – und dann zum Buddhismus übertreten…

Homepages der Veranstalter von Nagpur
www.aiccindia.org
www.scstconfederation.com
www.dalitnetwork.org
BBC-Bericht

Quelle: Livenet / AICC, The Hindu

Datum: 24.10.2006
Autor: Peter Schmid

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