Sie haben Christus gewählt

Wie erleben konvertierte Muslime ihren Übertritt zum Christentum? Sie sind selten und nur schwer zu finden: In der Schweiz lebende Muslime, die zum Christentum konvertiert sind, stehen unter Druck und werden von ihrer Ursprungsgemeinschaft zurückgewiesen. Obgleich in aller Regel heimlich vollzogen, empfinden sie den Religionswechsel als befreiend.
Die Bibel und der Koran.

"Es gibt keinen Zwang in der Religion", sagt Vers 256 der zweiten Sure des Korans. Das Gebot aus dem heiligen Buch der zweiten Schweizer Religion wird oft als Beweis für die islamische Toleranz zitiert. In der Realität kommt es kaum je zur Anwendung, wenn ein Muslim, eine Muslimin, sich einer anderen Religion zuwendet. In den vorliegenden Fällen ist es, wie am häufigsten, das Christentum.

Die neuen Christ-Gläubigen, die sich dem Evangelium zugewandt haben, sind lebende Zeugen dieser Realität: In der erdrückenden Mehrheit der Fälle haben sie ihre Konversion versteckt vollzogen. Für die meisten war der Prozess schmerzhaft.

Druck und Drohungen

"Während vierzig Jahren lebte ich in einer inneren Wüste. Als ich konvertierte, erhielt ich Drohungen von meinen Landsleuten", bekennt Aïcha, eine im Waadtländer Norden lebende Marokkanerin aus Agadir. "Heute trage das niemandem nach. Ich habe keine Angst mehr. Die Liebe Christi ist stärker, sie gilt es zu teilen".

Catherine* hat nie "wirkliche Angst" verspürt, doch da, wo es um ihre innersten Überzeugungen geht, reicht die Furcht, um sie zum Schweigen zu bringen, gesteht sie. Die Nordafrikanerin ist in einem "offenen und modernen" Milieu aufgewachsen. Ihre Konversion hat sie nur einer im Ausland lebenden Schwester mitgeteilt. "Um niemanden zu verletzen." Mehr will sie dazu nicht sagen. Wie andere auch, die lieber schweigen und es vorziehen, ihren Glauben zu leben "wie jeder hier: im Privaten".

Leben im „Schatten"

Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, scheint der Ratschlag der ehemaligen Muslime zu lauten. Vor allem Männer sind um ihre Anonymität bedacht. "Im Schatten fühle ich mich wohl", bemerkt einer von ihnen. Vielleicht, weil sie besser als andere wissen, dass Konversion im Islam gleichbedeutend ist mit der Verneinung der Familienreligion und der Zurückweisung der Gemeinschaft der Glaubenden, der Umma. Bestenfalls werden die Abgefallenen gesellschaftlich gemieden. Schlimmstenfalls werden sie bestraft, in einigen Staaten, in denen die Scharia buchstabengetreu ausgelegt wird, reicht das Strafmass bis zur Todesstrafe. Auf ähnliche Ansichten trifft man auch in den muslimischen Gemeinschaften in Europa.

"Diese Problematik ändert sich hier kaum", stellt Roberto Simona fest, der beim internationalen katholischen Hilfswerk Kirche in Not Verantwortlicher für die lateinische Schweiz ist. Simona interessiert sich für die Muslime in der Schweiz, die sich von der Botschaft Christi angezogen fühlen. "Ihre Taufe ist das Ergebnis eines langen Weges, an dessen Anfang konkrete Erlebnisse in ihren Heimatländern stehen", erklärt er. "Sie ist die Vollendung eines oft prägenden Lebenswegs." Wie jener der Marokkanerin Aïcha.

Spirituelle Suche

"Aufgewachsen bin ich in einem von Dominikaner-Nonnen geführten Waisenhaus", erzählt sie. "Sie haben mir viel Liebe geschenkt und mich Verantwortungsbewusstsein gelehrt. Daran habe ich mich oft erinnert." Als Kind ist sie unzufrieden mit ihrer muslimischen Herkunftsreligion. Als Berberin muss sie den Koran auswendig lernen, in klassischem Arabisch und unter der Aufsicht eines strengen Imams an ihrer marokkanischen Schule. Gläubig, aber ratlos, sucht sie jahrelang ihren Weg. Sie wird von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, die sie "wie ein Dienstmagd" behandeln. Bis es ihr aus eigener Kraft gelingt, selbständig zu werden. Sie arbeitet in den Elendsvierteln von Agadir, bevor sie nach Europa emigrieren kann.

Aïcha heiratet einen Schweizer. Konvertieren, um "normal" zu sein, diesen Wunsch hatte sie nie. Sie stellt sich Fragen über den Glauben, betet weiter zu Gott. Aber zu welchem? Als sie 40 ist, machen ihr Eheprobleme und eine schwere Krankheit das Leben "zur Hölle". Ratlos und einsam betritt sie eines Tages eine Kirche. "Einige ältere Leute beteten dort, ich hörte ihnen zu. Es war der Lobgesang des Zacharias", erinnert sie sich lächelnd. Sie spürt einen "grossen Frieden", fühlt sich "verwandelt" und unternimmt die ersten Schritte ihrer Konversion. "Ich habe den Gott der Liebe entdeckt. Er hat mich getröstet, mir geholfen und mich verstanden - mich, Marie-Ange, die ich darum kämpfen musste, zu werden, wie ich bin."

Selbstachtung

Der Lausanner Religionspsychologe Pierre-Yves Brandt beschäftigt sich mit der Psychologie der Konversion. Ein solches Vorgehen resultiert aus einer mehr oder weniger lang andauernden Krise, an dessen Ende der Einzelne eine Lösung für seine existenziellen Probleme findet, erklärt er. Der Religionswechsel werde dabei im Sinne einer neuen Beziehung zu Gott gesehen, der als tröstend und einladend erfahren werde. Das klingt auch bei den befragten Konvertiten an, die alle von einem "Gott des Herzens" sprechen.

Vor allem geht diese Persönlichkeitsveränderung laut Brandt mit einem "psychologischen Gewinn" einher sowie "mit einer neuen Selbstachtung, die als Wiedergeburt erfahren wird. Im Vergleich zu einer früheren als unterdrückend beurteilten Norm wird die Entscheidungsfähigkeit der Person aufgewertet, weil sie ihr ermöglicht, in vollem Umfang die eigene Persönlichkeit zu bestätigen."

Der Glaubensübertritt als Kampf des Einzelnen gegen eine ihm nicht genehme Gruppe? Für Pierre-Yves Brandt ist es "eher die Auseinandersetzung des modernen Konzepts der Person, die frei ihr Lebensmodell wählt, mit den Zwängen der traditionellen Gesellschaften." Ein alter Konflikt also, und keineswegs ein ausschliesslich muslimischer. Doch für Ex-Muslime ist eine Konversion "doppelt schwierig", zum einen "wegen des ausschliessenden Charakters des konservativen Milieus, aus dem sie kommen", zum anderen wegen des Islams, "einer Religion, die nicht zulässt, dass man sie verlässt".

Freiheit und Menschenrechte

Das Umfeld, aus dem sie kommen, ist durch traditionelle Gesetze geprägt. Nicht selten verbinden die neuen Gläubigen daher Freiheit, Demokratie und Menschenrechte mit der christlichen Religion. Ganz gleich, ob sie zum Katholizismus, Protestantismus oder zum evangelikalen Glauben gekommen sind: diese Werte stehen für sie im Zusammenhang mit der Person Jesus von Nazareth. Aus dem koranischen Propheten Isa (Jesus in arabisch) wird für sie der Gekreuzigte, den sie nach und nach mit der aufgeklärten Moderne assoziieren.

Sind sie konvertiert, um freie Männer und freie Frauen zu sein? "Freiheit heisst nicht, alles tun zu dürfen, frei bedeutet nicht freizügig", bemerkt Catherine*. Auch wenn der Übertritt zum Christentum einen Bruch mit dem Islam darstellt, bewahren die ehemaligen Muslime die "positiven Werte" ihrer Herkunftsreligion, vor allem die Gastfreundschaft und den Respekt vor den Ältesten.

Liebesbeziehungen sind ein weiterer Grund für den Übertritt zum christlichen Glauben. Zoé* ist nicht getauft, aber sie erzieht ihre Kinder in der Religion ihres Mannes, "weil Gott derselbe für alle ist". Vielleicht begeben wir uns hier in eine postmoderne Konzeption, in der der Glaube wandelbar und anpassungsfähig ist. Angesichts der zahlreichen gemischt-religiösen Paare in der multikulturellen Gesellschaft des Westens sind diese Fälle jedoch nicht selten. Trotzdem werden sie im Stillen gelebt: Gegenüber muslimischen Bekannten verschweigen Zoés Kinder den christlichen Glauben ihrer Mutter lieber.

Öffentlicher Glaube

Die Liebe hat Anaïs* und Saber* zusammengeführt. Sie hat auch Sabers Konversion erleichtert. Saber, der aus einer toleranten muslimischen Familie kommt, und Anaïs haben sich in einer evangelikalen Gemeinschaft kennengelernt, bevor sie sich wieder davon entfernten und schliesslich zum evangelisch-reformierten Glauben kamen. "Saber war auf der Suche. Von jetzt an lebt er seinen neuen Glauben in Frieden. In seiner Familie, die wohl etwas ahnt, spricht er nicht davon." Alle kommen gut miteinander aus, weil der Glaube im Bereich des Privaten bleibt.

Im evangelikalen Milieu besteht die Tendenz, den neuen Glauben zur Schau zu stellen - im Unterschied zu Katholiken und Protestanten, die, um das gute Klima des interreligiösen Dialogs besorgt, lieber nicht über das leidige Thema sprechen. Eher ignorieren sie die Konvertiten in den eigenen Reihen.

Die Evangelikalen verteidigen sich gegen den oft erhobenen Proselytismus-Vorwurf: "Wir treten vor die Muslime mit Respekt vor deren Glauben", sagt Christian Bibollet, Koordinator der Arbeitsgruppe Islam des evangelikalen Netzwerks in der Westschweiz. "Der Dialog, der Geist des Teilens und die missionarische Arbeit sind grundlegend für das Christentum, wir indoktrinieren niemanden."

Schon früh für Gott interessiert

Und jene Konvertiten, die durch ein göttliches Zeichen gerufen wurden? Sie sind selten, aber es gibt sie. Arta stammt aus dem Kosovo und hat keine religiöse Erziehung erhalten. Trotzdem hat sie sich schon früh für Gott interessiert. "Meine Familie hatte einen schrecklichen Autounfall, als ich acht war. Wir sind alle heil davongekommen. Im Krankenhaus hat eine serbische Frau meine Mutter besucht. Diese Unbekannte hat ihr erzählt, sie habe von einem schlimmen Unfall geträumt und dass sie das Opfer trösten solle - was sie auch tat. Wie soll man so etwas erklären?", fragt sie mit leuchtenden Augen.

Arta schämt sich nicht für ihren Glauben. Sie stellt ihn aber nicht zur Schau, sondern spricht ruhig davon. Angst? Furcht? Worte, die sie nicht zu kennen scheint. Das gilt längst nicht für alle Konvertiten, für die der neue Glaube Tag für Tag eine persönliche Herausforderung darstellt.

* Name geändert.

In Lebensgefahr

In ihren Heimatländern wurden sie für ihre Konversion verfolgt und sind in die Schweiz geflohen. Doch das Bundesamt für Migration (Bfm) vertritt eine harte Position gegenüber Asylbewerbern, die mit ihrem Glauben argumentieren. Der Übertritt zum Christentum scheint kein ausreichender Grund zu sein, um ihnen einen Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Aus Angst vor einem Zustrom dieser eher atypischen Antragsteller?

Ali* war Busfahrer im Iran, bevor er 2006 in die Schweiz kam. Der offene und freundliche junge Mann war während eines evangelikalen Treffens in Teheran verhaftet worden. Die Religionspolizei entführte und folterte ihn während 48 Stunden, die Augen verbunden. Seine Konversion gestand er nicht. "Soll dein Jesus dich doch retten", johlten seine Peiniger. Mitten in der Nacht haben sie ihn dann auf die Strasse geworfen, "wie einen Kehrichtsack".

Einige Tage später verrät ihn die Familie seiner Verlobten. Seine Tante, eine Anwältin, hilft ihm. Zu Fuss überquert er die türkische Grenze und durchquert Europa. In Basel lässt er sich taufen, denn "im Iran ist das zu gefährlich". Den Kopf voller Ideen, bereitet er sich auf die Eidgenössische Matura vor und hat sich an einer Westschweizer Universität eingeschrieben. Dreimal hat ihn das Bundesamt für Migration bereits angehört. Es anerkennt, dass "die Scharia für Abfall vom Islam die Todesstrafe vorsieht". "In der Praxis", bewertet das Bundesamt aber, würden diese Personen "nicht systematisch Opfer von Verfolgungen". Trifft das wirklich zu? Alis Gesuch wurde im letzten April abgelehnt. Er ist von der Ausschaffung bedroht, aber Amnesty International unterstützt seinen Fall. "Ich bin Christ, ich bin modern, und ich möchte das Leben eines freien Mannes leben. Was ist daran schlecht?"

Beitrag bekam Auszeichnung

Dieser Artikel ist unter dem Titel "Des musulmans qui ont choisi le Christ" in der Westschweizer Wochenzeitschrift "Echo Magazine" erschienen. Der Genfer Journalist Thibaut Kaeser hat dafür Anfang März den mit 1000 Franken dotierten Medienpreis 2009 des Schweizerischen Vereins katholischer Journalistinnen und Journalisten (SVKJ) gewonnen. Der Beitrag wurde leicht gekürzt und Übersetzt.

Lesen Sie das Interview zum Thema: "Ich habe keinen friedlich praktizierten Islam erlebt"

Datum: 26.03.2009
Quelle: Kipa

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