Zuerst war es nur ein leises Grollen. Am Anfang merkten die Menschen wahrscheinlich gar nicht, dass der Wasserspiegel des Sees allmählich stieg. Aber bald war das Tosen nicht mehr zu überhören. Der See trat über die Ufer, der Boden bebte, auch höher gelegene Dörfer waren schon vom Wasser eingeschlossen. Wer noch fliehen konnte, packte seine Siebensachen. Wer ein Boot besass, lichtete die Anker. Andere rissen ihre Häuser und Ställe nieder, um sich - wie Noah mit seiner Arche - aus den Pfosten und Balken hastig ein Floss zu bauen. Vielleicht hatte es ein paar Mutige sogar in die Richtung gezogen, aus der das unheimliche Geräusch zu kommen schien. Der Anblick muss ihnen den Atem verschlagen haben: Das fruchtbare Tal existierte nicht mehr. Der natürliche Damm, der es seit Menschengedenken gegen den Bosporus abgeriegelt hatte, war verschwunden. Wild schäumende Wassermassen donnerten unter ohrenbetäubendem Getöse die Hänge herunter. Es war Salzwasser, das direkt aus dem Nichts zu kommen schien und sich nun mit unvorstellbarer Gewalt in das tiefer gelegene Becken des Schwarzen Meeres ergoss - eine Flutwelle, tausendmal stärker als die Niagarafälle. Ziemlich genau 7600 Jahre ist dies alles her. Folgt man Walter Pitman und William Ryan ("Sintflut. Ein Rätsel wird entschlüsselt", Gustav Lübbe Verlag), dann war es eine der gewaltigsten Naturkatastrophen, die uns aus der jüngeren Erdgeschichte jemals bekannt wurden. Die beiden Geologen vom renommierten Lamont-Doherty- Observatorium der New Yorker Columbia University haben es ausgerechnet: Mit achtzig bis hundert Stundenkilometern müssen damals jeden Tag rund vierzig Kubikkilometer Wasser aus dem Bosporus hervorgeschossen sein. Aus dem dahinter liegenden Süsswasser-See, an dem die Menschen damals vermutlich schon Ackerbau und Viehzucht betrieben, entstand das Schwarze Meer, wie wir es heute kennen - ein 420000 Quadratkilometer grosser Salzwasser-See, der seitdem über den Bosporus mit dem Mittelmeer verbunden ist. Noch ist diese Sintflut-Theorie heiss umstritten, die Pitman und Ryan in ihrem Buch ausführlich schildern und mit ausgedehnten Exkursen über die Tradition der Sintflut-Legende und die Geschichte der Geologie garnieren. Als das Buch im amerikanischen Original erschien, schrieb der US-Archäologe Mark Rose, dass man versucht sein könnte, die beiden als "Spinner" abzutun, wenn sie als Geologen nicht so anerkannte Wissenschaftler wären. Die Argumentation der beiden Wissenschaftler erscheine ihm "grundsätzlich fehlerfrei", sagt auch der britische Geologe John Dewey: "Die Geologie stimmt, das Überfluten des Schwarzen Meeres bis zur heutigen Donaumündung - das scheint mir unumstösslich." Doch auch Dewey traut sich noch keine Antwort auf die entscheidende Frage zu: "Erklärt das die Erzählung von der biblischen Sintflut oder bezieht sich diese auf ein anderes Ereignis?" Dass Menschen vor etwa 7600 Jahren, also am Übergang von der Mittel- zur Jungsteinzeit, schon in Dorfgemeinschaften zusammenlebten, ist archäologisch gesichert. Und dass kein Überlebender ein derartiges Drama jemals hätte vergessen können, liegt auf der Hand. Man versuche nur, sich diese Verzweiflung vorzustellen: Wer einem so furchtbaren Hochwasser entkommen wollte, musste täglich rund 400 Meter weiterziehen, um mit dem Ansteigen des Pegels wenigstens Schritt halten zu können. Eine Flucht durch flachere Flusstäler hätte sogar die doppelte bis vierfache Tagesleistung bedeutet - und das über Wochen und Monate. "Sammler und Jäger wären einfach in ein anderes Gebiet, an einen anderen Fluss oder in einen anderen Wald gezogen", meint Pitman. "Aber Bauern und Hirten hätten mitsamt ihrer Saat und ihren Tieren flüchten müssen, um erst mal nur das nackte Leben zu retten." Eine Massenflucht dieser Art, so folgerte Pitman messerscharf, sei "durchaus geeignet, Mythen entstehen zu lassen". Ihn lassen auch die Einwände anderer Archäologen kalt. Inzwischen gebe es, hält er den Zweiflern entgegen, "so eindeutige geologische Belege für unsere Flut, dass wir sagen können: Die Archäologen müssen mit dieser ,unangenehmen’ Tatsache leben." Dabei verdanken Walter Pitman und William Ryan - ganz wie die legendären Detektive James Watson und Sherlock Holmes - viele ihrer wertvollsten Erkenntnisse den äusserlich unscheinbarsten Indizien. Dazu zählen zum Beispiel winzige Algen, fossile Pflanzenwurzeln, Schnecken und Muschelschalen, die sie während einer abenteuerlichen Expedition mit dem russischen Forschungsschiff "Aquanaut" vom Grund des Schwarzen Meeres bargen. Diese Indizien lieferten den beiden Geologen den eindeutigen Beweis, dass das Schwarze Meer vor 7600 Jahren tatsächlich ein Süsswasser-See gewesen war, der "praktisch über Nacht" mit Salzwasser aus dem Mittelmeer aufgefüllt wurde. Das entscheidende Zeitraster steuerte Glenn Jones vom Institut für Ozeanografie in Texas bei: "Es ist wirklich erstaunlich", wunderte er sich: "Das ganze Becken des Schwarzen Meeres wird um 140 Meter angefüllt und das in weniger als dreissig Jahren. Das war so viel Wasser, dass der Wasserspiegel der Meere weltweit um dreissig Zentimeter gesunken sein muss." Genau das hatten Pitman und Ryan vermutet, als ihnen der Bulgare Petko Dimitrov vom Institut für Ozeanologie in Varna sozusagen das i-Tüpfelchen lieferte. Dimitrov hatte schon in den siebziger Jahren das Schwarze Meer erforscht und dabei herausgefunden, dass die Oberfläche des Schwarzmeer-Sees einst viel tiefer gelegen hatte als der Spiegel der Weltmeere. Von seinen Arbeiten erfuhr man im Westen erst nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs im Jahre 1990. Dimitrov hatte unter Wasser auch Hinweise auf alte Strände und Dünen gefunden, von denen er später sogar Muscheln aufsammelte. Aus einem kleinen U-Boot heraus hat er den Meeresboden mit den Augen eines Geologen betrachtet. Dimitrov war davon überzeugt, dass da unten in grauer Vorzeit einmal Menschen gewandert sind. Seine Kollegen aus Varna hielten das damals für blühende Phantasie. Inzwischen wurden sie und andere von den beiden US-Forschern eines Besseren belehrt. Ein internationales Geologenteam unter der Leitung von Jun Abrajano bestreitet die Entstehung des Schwarzen Meeres bei der biblischen Sintflut. Nach Sediment-Untersuchungen vermutet nun Abrajano vom Rensselaer-Polytechnikum in Troy, dass es bereits vor 10000 Jahren eine Verbindung zum Mittelmeer gegeben hat. Der Wasserspiegel im Schwarzen Meer sei nur langsam angestiegen. Von einer Flut könne keine Rede sein. Da der See unterhalb des Meeresspiegels lag, muss es schliesslich zu einer Katastrophe gekommen sein, nachdem sich das Mittelmeer einen Weg ins Landesinnere gebahnt hatte (geografische Karte im Web unter www.cia.gov/cia/publications/factbook/maps/tu-map.jpg ). Nach Überlegungen der Forscher hat sich damals das Meerwasser mit einer Gewalt in das heutige Schwarze Meer ergossen, die etwa der von 200 Niagara-Fällen entspricht. Um die These zu überprüfen, hat der Geologe Abrajano Sedimente im Marmarameer zwischen dem Bosporus und den Dardanellen untersucht. Seine Beobachtungen lassen darauf schliessen, dass es schon sehr viel früher Salzwasser im Landesinneren gegeben hat. Auch er glaubt, dass der Wasserspiegel des Schwarzen Meeres allmählich angestiegen ist. Allerdings kam es dabei nicht zu einer Katastrophe. Seiner Vorstellung nach hat es etwa 8.000 Jahre gedauert, bis der Wasserspiegel sein heutiges Niveau erreicht hatte. Im Laufe des Jahres soll Abrajanos Forschung in dem internationalen Forschungsjournal Marine Geology veröffentlicht werden. Eine Expedition von "National geographic" unter Leitung des Forschers und Entdeckers Robert Ballard, der bereits die Wracks der Titanic und des deutschen Schlachtschiffs "Bismarck" auf dem Meeresgrund aufgespürt hat, glaubt auf dem Grund des Schwarzen Meeres Siedlungsreste entdeckt zu haben. 20 Kilometer vor der türkischen Küste und in 95 Meter Tiefe fand er "sehr gut erhaltene" geschnitzte Holzbalken, hölzerne Verstrebungen und Steinwerkzeuge. Nach Meinung von Fredrik Hiebert, des leitenden Archäologen der Expedition, ist es "der erste konkrete Beleg, dass die Küste des Schwarzen Meeres vor der Überschwemmung bereits besiedelt war". Ich bin nicht sicher, dass es Noahs Flut war. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es hier eine Sintflut gab." Genau das hofft Ballard jetzt erhärten zu können. Sintflut. Ein Rätsel wird entschlüsselt. Zeugnisse der Sinnflut findet sich auch bei den Sumerern, nur dass hier derjenige, der von Gott angewiesen wird, ein Schiff zu bauen und mit seiner Familie zu fliehen, nicht Noah heisst, sondern Utnapischtim heisst. Die Parallelen zur biblischen Geschichte sind so offensichtlich, dass es sich nicht um einen reinen Zufall handeln kann. Berichte von einer gewaltigen Flut sind allen Völkern der Erde gemeinsam. Sie begegnen in der Edda, der Ursage der Germanen, ebenso wie in den Felsenzeichnungen der australischen Aborigines. Das Alte Testament berichtet darüber in 1. Mose 7,8. Insgesamt zählt die Wissenschaft nicht weniger als 500 Sintflut-Sagen. Erst seit Pitman und Ryan konzentriert sich das Interesse der Forscher auf einen konkreten geografischen Ort, der möglicherweise der Schauplatz einer epochalen, wissenschaftlich nachweisbaren Naturkatastrophe gewesen ist: die Erdsenke des Schwarzen Meeres mit einer Wassertiefe von bis zu 2300 Metern. Einst, so glaubten die Forscher bei Rammbohrungen bewiesen zu haben, war dieses Meer ein Süsswassersee, dessen Meeresspiegel 120 Meter unter dem des Mittelmeeres lag. Tatsächlich stimmen zahllose Sagen der Mittelmeervölker in der Schilderung einer Überschwemmungskatastrophe überein, die ganze Völkerschaften aus ihren Wohnsitzen vertrieben habe. Den griechischen Dorern war sie ebenso geläufig wie den italienischen Umbrern, die sich nach 1200 v. Chr. in Mittelitalien angesiedelt hatten. Auch Pitman und Ryan spürten Völkerwanderungsströmen nach, die sich bis an den Westrand Europas und nach Ägypten verfolgen lassen. Mit ihnen verlagerten sich hoch entwickelte Kulturen über Tausende von Kilometern. Doch erst der Franzose Lericolais, Mitarbeiter am Staatlichen Forschungsinstitut Ifremer bei Brest, lieferte mit Bohrungen im Donaudelta einen ernstzunehmenden Beweis. Danach war das Meer an dieser Stelle noch vor 8500 Jahren ein Süsswassersee. Am gleichen Ort, nur in einer etwas höheren Erdschicht und "nur" 7500 Jahre alt, fand sich das erste Salzwassertier: eine Miesmuschel. Dass zwischen beiden Daten etwas Furchtbares geschehen sein muss, schloss Lericolais aus der Tatsache, dass die Erdschichten an dieser Stelle stark zusammengepresst sind. So modern die Theorie von Pitman und Ryan über die Herkunft der Wasssermassen auch klingen mag, sie weist zu viele Schwachpunkte auf, um eine wirklich ernsthafte Erklärung für ein 150tägiges Erzeugen einer Hochflut sein zu können! Die biblischen Angaben über die Herkunft der Wasserfluten - Regensturzfluten und Druckwasser aus der Erde - scheinen für die Autoren weder besonders plausibel noch erwägenswert zu sein. In der Bibel (1. Moses, Kapitel 7, 11-12) werden als Quellen der unvorstellbar grossen Wassermassen, die einen 150tägigen Wasserhochstand über Bergeshöhen erzeugten, nur 2 Faktoren genannt: - Gott liess es 40 Tage und 40 Nächte lang auf die Erde regnen. - Gleichzeitig „brachen alle Brunnen der grossen Tiefe auf“. Die Wissenschaftler Ryan und Pitman glauben dagegen, dass rasch und stark abgeschmolzene Gletscher das Mittelmeer so stark hätten ansteigen lassen, dass sich die Wasserfluten sturzflutartig in die tiefer gelegene Gegend ums Schwarze Meer ergossen hätten. Das Buch gibt einen faszinierenden Einblick in die Frühgeschichte der Menschheit - ein Lesevergnügen erster Klasse für alle, die sich für die Thematik interessieren. Vieles bleibt aber Spekulation. Das Buch Sintflut - Ein Rätsel wird entschlüsselt ist im Gustav Lübbe Verlag Bergisch-Gladbach erschienen ISBN 3-7857-0878-5Niemand konnte ein solches Drama vergessen
Einer forschte hinter dem Eisernen Vorhang
Kritische Überprüfung
Forschung geht weiter
Buchbesprechung
von Walter Pitman, William Ryan
Datum: 18.06.2002
Autor: Bruno Graber
Quelle: Jesus.ch