Mit dem Aufkommen der Jugendkultur seit den 50-er Jahren hat sich die Gesellschaft stark verändert. Manche Beobachter sprechen von Traditionsabbruch: Es scheint, dass die Orientierungen, die christlichen und anderen Werte, welche vergangene Generationen leiteten, Kindern und Jugendlichen nur noch schwer zu vermitteln sind. Der Zürcher Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich vermutete bei der Eröffnung einer Bibelausstellung, dass die Versammelten Mühe haben könnten, alle Zehn Gebote ohne weiteres aufzuzählen. Die Frage, wie Religion an öffentlichen Schulen vermittelt werden soll, ist vor diesem Hintergrund hochaktuell. Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, da unser Staat säkular, also nicht an eine Religionsgemeinschaft gebunden ist und die Schüler zunehmend aus verschiedenen Gemeinschaften stammen. Im Religionsunterricht spiegeln sich die komplexen Spannungen der multikulturellen Gesellschaft. Zudem funktioniert die Schule nur mit Zwang; Religion aber braucht Freiheit. Die Glaubensfreiheit ist die kostbarste Errungenschaft der westlichen Demokratien. Im Kanton Zürich sucht man nun einen Weg, um mit dem Religionsunterricht Toleranz und damit die Integration von Minderheiten zu fördern: Künftig soll an der Oberstufe ein für alle obligatorisches Fach ‚Religion und Kultur’ unterrichtet werden – ohne Alternative oder Abmeldemöglichkeit. Die Schwierigkeiten dieses Vorhabens wurden am 31. Januar und 1. Februar an einer Fachtagung an der Universität Zürich ( www.livenet.ch/www/index.php/D/article/161/12454/ ) erörtert. In einem Vortrag nahm der Tübinger Theologieprofessor Friedrich Schweitzer das Projekt näher unter die Lupe. Es folgt eine Zusammenfassung seiner Ausführungen. Schweitzer erwähnte eingangs, dass heute „Frieden und Toleranz im gesellschaftlichen Zusammenleben zu expliziten Erziehungszielen werden, die der Pädagogik gesellschaftlich vorgegeben sind“. Das führe dazu, dass ein „Religionsunterricht für alle“ am Integrationsnutzen gemessen werde. Zwar wird heute wieder allgemein anerkannt, dass Religion zum Bildungsauftrag der Schule gehört, aber gesellschaftliche Erwartungen und staatliche Vorgaben spielen eine viel stärkere Rolle. Schweitzer kam mehrfach auf die Herausforderungen zu sprechen, welche sich für die Kirchen stellen: „Je weniger eine auf Konfession oder auf eine bestimmte Religion gerichtete Erziehung und Bildung im schulischen Religionsunterricht gewährleistet sind, desto mehr sehen sich die Religionsgemeinschaften herausgefordert, eigene Angebote für Kinder und Jugendliche einzurichten oder auszubauen.“ In Norwegen wird der vor einigen Jahren eingeführte so genannte allgemeine Religionsunterricht von einer breiten, auch staatlich unterstützten Bemühung um einen Taufunterricht begleitet, der ebenfalls das gesamte Kindes- und Jugendalter umfassen soll. Kritisch kommentierte der Tübinger Religionspädagoge den interreligiösen Unterricht in England und Wales, der immer wieder als Modell hingestellt wird. Die britische Behörde, die die Qualität des Unterrichts prüft, befand im letzten Jahr, kein Fach werde mangelhafter erteilt. Kurz: „Wir stehen im Bereich des Religionsunterrichts angesichts der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Pluralität vor weithin ungelösten Problemen. Friedrich Schweitzer stellte in seinem Vortrag fünf grundlegende Spannungsfelder vor, in denen sich Konzepte für den Religionsunterricht bewähren müssen: Wenn erstens Religion in der Form von Religionskunde sachlich und objektivierend gelehrt wird (wie in Zürich geplant), ermöglicht dies zwar die Darlegung verschiedenster religiöser Inhalte. Aber die Religionskunde gelangt dort an Grenzen, „wo Kinder und Jugendliche sich auch existentiell mit religiösen Fragen und Themen auseinandersetzen wollen. Denn bei einer solchen Auseinandersetzung kommt es selbstverständlich auch zu Identifikationen mit bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften sowie zu einem probeweisen Übernehmen bestimmter Überzeugungen für sich selbst“. 1. Sachlichkeit gegen Überzeugung Von daher wertet Friedrich Schweitzer die Ziele des geplanten Zürcher Fachs in jeder Hinsicht als problematisch, „eben weil sie die Grenzen einer religiös oder weltanschaulich neutralen Religionskunde verletzen. Wie soll für Religion oder Religionen ‚sensibilisiert’ werden, ohne diese Neutralität zu verlassen? Wie soll ‚Orientierung’ möglich sein, wenn es keine Orientierungspunkte gibt und wenn zugleich jede Orientierung dieser Art religiöse oder weltanschauliche Wertungen und Entscheidungen impliziert?“ 2. Lehrer als Vermittler oder als Partner? „Es gilt nicht mehr als legitim, dass Erwachsene die Interessen von Kindern und Jugendlichen definieren und an deren Stelle sprechen; es gilt auch nicht mehr als legitim, dass Männer für Frauen sprechen. (…) Man kann dies als das Recht auf Selbstinterpretation bezeichnen, und dieses Recht gilt natürlich auch für Religionen. Religionen haben ebenfalls das Recht, für sich selber zu sprechen. Es ist nicht legitim, wenn sie nur von anderen Instanzen – sei es der Politik oder der Wissenschaft – ‚objektiv’ definiert und ausgelegt werden. (…) Innen- und Aussenperspektiven müssen gleichermassen zum Zuge kommen dürfen.“ Mit anderen Worten: „Ein allein auf objektive Darstellung aus der Aussenperspektive gerichteter Unterricht bleibt unzureichend, weil er gegen das Recht der Selbstinterpretation verstösst…“ Religionsfreiheit besteht darin, dass der Staat niemand aufgrund seiner Religionszughörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit diskriminiert. Dies bedeutet laut Friedrich Schweitzer, „dass durch den Staat und durch staatliches Recht auch kein inhaltlich bestimmtes Religionsverständnis unterstützt oder verbreitet werden darf. Zugespitzt: Der Staat darf nicht einmal definieren, was Religion eigentlich sei oder sein soll, und schon gar nicht darf er sich als Richter darüber aufspielen, welche Formen von Religion zukunftsfähig seien und welche nicht.“ 4. Ethische Werte, die Kulturen verbinden? Doch Kinder und Jugendliche sind überfordert, wenn sie es mit Normen zu tun bekommen, die sie nicht in ihrer Kulturvorfinden. Daraus folgt, „dass die pädagogische Praxis … vielfach von konventionellen Normen einer Gruppe oder Gemeinschaft bzw. des Staates bestimmt sein muss. Zum anderen gewinnen ethische Normen ihre bindende Kraft nicht unabhängig von der Zugehörigkeit zu Gruppen und Gemeinschaften, die ein bestimmtes Ethos pflegen“. Friedrich Schweitzer rät, die eigenständigen Einzel-Traditionen und globale Gesichtspunkte aufeinander zu beziehen. 5. Der Staat allein schafft es nicht Liegt der Politik das Wohl des Gemeinwesens am Herzen, muss die Zivilgesellschaft – darunter die Kirchen – gestärkt werden. Da die fünf Spannungsfelder nicht aufzulösen sind, gibt es nach Schweitzer keine einfachen Rezepte, wie der Staat den Religionsunterricht tauglich einrichten kann. Die Unterrichtenden müssen sich zwischen den Polen bewegen. Dabei betont er, „dass auf Religion bezogene Lernprozesse nur dann gelingen, wenn sie auf die biographischen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen eingestellt sind. Alle Lernprozesse im Bereich von Religion sind eingebettet in die Lebensgeschichte einzelner Personen“. Schweitzer verweist auf die Notwendigkeit, früher als in der Oberstufe zu beginnen: „Von den Kindern und von ihren Interessen her ist es höchst wünschenswert, dass auch auf der Primarstufe Religionsunterricht angeboten wird. Biographisch gesehen vollziehen sich gerade im Grundschulalter wichtige Identifikationsprozesse, die religionspädagogisch kompetent begleitet werden sollten.“ „Wenn nun in Zürich – offenbar ohne grosse Diskussion und allein dem Zwang der ‚unchtbaren Hand’der Finanzzwänge folgend – der gesamte Religionsunterricht auf der Primarstufe abgeschafft worden ist, so liegt darin meines Erachtens ein Verstoss gegen das Recht des Kindes auf Religion. Alle verfügbaren Untersuchungen zeigen, dass sowohl Kinder als auch Eltern den Religionsunterricht im Grundschulalter überaus schätzen.“ Aufbauen auf dieser Grundlage kann man nur, wenn sie gelegt worden ist: „Ein verantwortlicher Umgang mit religiöser Bildung in der Sekundarstufe ist ohne eine entsprechende Reflexion und Gestaltung von Angeboten auf der Primarstufe eigentlich gar nicht möglich.“ Darum fordert Schweitzer die Zürcher Sparpolitiker auf, ihren Beschluss „wenn irgend möglich“ rückgängig zu machen. Friedrich Schweitzer betonte in seinem Referat auch, dass keineswegs von einem ‚religionslosen Zeitalter’ der Säkularität die Rede sein könne. „Rückläufig sind jedoch Prägungen im Sinne der kirchlichen Lehre oder Dogmatik, was inzwischen wohl auch für nicht-christliche Religionsgemeinschaften zutrifft. Glaubensüberzeugungen sind für heutige Jugendliche eine höchst individuelle Angelegenheit. Ihre Vorerfahrungen betreffen weit mehr die persönliche Lebensführung als etwa den Kontakt mit dem Leben einer Kirchengemeinde. Liturgie und Gottesdienst sind vielen fremd. Die Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft spielt in ihrem Leben vielfach kaum eine Rolle.“ Gerade darum muss der Religionsunterricht echte Begegnungen mit Kirchen und Religionsgemeinschaften einschliessen. „Der gelegentlich praktizierte oder empfohlene Einbezug so genannt authentischer Vertreter stellt dabei nur eine unzureichende Möglichkeit dar. Fruchtbarer wären Formen wie Praktika im Bereich von Religionsgemeinschaften, längerfristige Erkundungen ‚im Feld’ oder Ähnliches – Formen jedenfalls, die über einen bloss punktuellen Kontakt hinausreichen.“ Wenn Jugendliche mehr als nur eine Religion kennen lernen sollen, wie soll das interreligiöse Lernen geschehen? „Wie … soll eine dialogische Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem möglich sein, wenn Jugendliche die Traditionen, in denen ihre Herkunftsfamilie steht, kaum mehr kennen? Steht der Unterricht dann nicht vor der Herausforderung, ebenso sehr in das Eigene einzuführen wie in das Fremde? Ein interreligiöser Religionsunterricht, der nicht auch die religiöse Identitätsbildung unterstützen will, ginge jedenfalls an dieser Situation vorbei.“ Friedrich Schweitzer meint, dass damit – paradoxerweise – auch der neu geplante, religionskundliche Unterricht auf die Grundaufgabe, Identität zu bilden, zurückgeworfen wird. Der gesamte Vortrag von Prof. Friedrich Schweitzer wird mit den anderen Referaten und Ergebnissen der Tagung vom 31. Januar/1. Februar 2004 als Buch herausgegeben werden und im Theologischen Verlag Zürich erscheinen. Livenet-Bericht zur Tagung: www.livenet.ch/www/index.php/D/article/180/12454 Kinder ganz verschieden geprägt
Fachtagung in Zürich
Kirchen müssen selbst mehr tun
Fünf Spannungsfelder
Gerade biblische Geschichten sind darauf angelegt, dass sie die Schülerinnen und Schüler existentiell herausfordern. „Ein Religionsunterricht, der sich ängstlich auf die Grenzen einer neutralen Religionskunde kapriziert, steht daher ständig vor der Herausforderung, seine eigenen Inhalte zu domestizieren und ihnen gerade dort, wo sie religiös gesehen am interessantesten sind, von vornherein jede Ernsthaftigkeit zu nehmen. Wenn man es zuspitzen will gleicht ein solcher Religionsunterricht einer Sprachkunde, bei der Witze behandelt werden und gleichzeitig streng verboten bleibt, über die Pointen zu lachen. Folge ist nicht zuletzt eine gesteigerte Form der Langeweile.“
Die Forderung nach Neutralität spitzt sich bei den Lehrerinnen und Lehrern zu – dies ist laut Friedrich Schweitzer das zweite Spannungsfeld: „Dabei spielt zunächst eine Rolle, dass in Fragen von Religion und Weltanschauung niemand einfach neutral sein kann. Faktisch geht deshalb auch von der Absicht einer neutralen Religionskunde ein religiöser oder weltanschaulicher Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen aus. (…) Sollen Lehrpersonen möglichst nach persönlicher Zurückhaltung und Neutralität streben oder sollen sie Partner im Dialog mit Kindern und Jugendlichen sein? In dieser Frage gehen die erziehungswissenschaftlichen Auffassungen bis heute weit auseinander.“
3. Objektivität im Streit mit den Selbstverständnissen der Religionen
Ein Schulfach Religionskunde zielt drittens auf eine möglichst objektive Darstellung von Religionen ab. Diese bedingt eine Aussenperspektive, obwohl manche Religionswissenschaftler meinen, dass jede Religion nur von innen angemessen verstanden werden kann. Friedrich Schweitzer weist darauf hin, dass in modernen Demokratien Vormundschaften prinzipiell als problematisch angesehen werden:
Viertens muss die Spannung zwischen dem Wunsch, ein kulturübergreifendes, universales Wertegebäude herzustellen, und den eigenständigen religiösen Traditionen wahrgenommen werden. „Religionsunterricht war und ist in aller Regel mit Erwartungen einer ethischen Erziehung verbunden. Für den Religionsunterricht für alle gilt dies insofern sogar ganz besonders, als der Anstoss zu einem solchen Religionsunterricht aus der Pluralisierung der Gesellschaft erwächst und auf die Gewährleistung von Frieden und Toleranz in der Gesellschaft zielt. Der Religionsunterricht für alle steht in dieser Hinsicht zugleich vor der Herausforderung, dass er sich bei der ethischen Erziehung nicht einfach auf eine bestimmte religiöse Tradition und deren Moral stützen darf, eben weil er ja übergreifend angelegt sein soll.“
Schliesslich besteht auch eine Spannung zwischen dem Monopol des (religiös neutralen) Staats und der Tatsache, dass er auf Institutionen der Zivilgesellschaft angewiesen ist: „Damit Demokratie gelebt und im Alltag gestaltet oder erfahren werden kann, braucht es intermediäre Institutionen, die zwischen den Staat und die einzelnen Bürgerinnen und Bürger eintreten – beispielsweise Vereine, Vereinigungen und Assoziationen, Bürgerbewegungen, Initiativgruppen usw.“Kinder abholen, dort wo sie sind
Kein B-Unterricht in der Primarschule: eine Verletzung des Rechtes auf Religion!
Ohne Grundlagen kein Aufbau
Interreligiöses Lernen nicht ohne Verwurzelung in der eigenen Tradition
Datum: 16.02.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch