Krise mit geistlichen Hintergründen
Die Spanier, nicht nur Jugendliche, hätten die Klientelwirtschaft und die Korruption der grossen Parteien satt, sagt der evangelische Theologe, der seit einem Vierteljahrhundert in Spanien lebt. «Die Politik im Land ist von Korruptionsskandalen aller Art geprägt. Die Justiz funktioniert nicht. Viele Leute empfinden, dass ‚die da oben keine Ahnung von den wahren Problemen der Menschen haben.» Auch evangelische Christen, unter ihnen Studenten des SEFOVAN-Seminars, an dem Hutter unterrichtet, beteiligen sich an den Protesten.
In die eigene Tasche wirtschaften
Mit Arbeitslosigkeit kämpfen evangelische Gläubige wie der Rest der Spanier. Fraglos helfe der Glaube an Jesus Christus vielen jungen Christen, über Frustration hinwegzukommen, meint Hutter. Und natürlich werde auch in Spanien fleissige und ehrliche Arbeit von vielen Chefs honoriert.
Die einseitige Entwicklung der spanischen Wirtschaft, die zur enormen Jugendarbeitslosigkeit von fast 50 Prozent geführt hat, führt der Madrider Bibeldozent auch auf das Fehlen einer protestantischen Unternehmermentalität zurück. «Für die allermeisten spanischen Firmeneigentümer ist ihr Betrieb einzig und allein zur eigenen Bereicherung da. Der Gewinn wird abgeschöpft, nicht reinvestiert.» Der Dienstleistungssektor sei in unzeitgemässen Formen erstarrt, Kundenservice und -freundlichkeit weitgehend unbekannt. «Kaum eine Reparatur wird korrekt ausgeführt.» Damit könnten spanische Firmen international nicht bestehen. Nach dem Ende des Baubooms floriere allein noch der Tourismus.
Überschuldete Kommunen
Uwe Hutter verweist zudem auf die Überschuldung der politischen Gemeinden. In der Provinz Madrid sei ein Drittel der Gemeinden de facto pleite. Von seiner Stadt Las Rozas sagt Hutter, sie zahle ihrem Bürgermeister einen höheren Lohn, als ihn der spanische Ministerpräsident bezieht. «Die Stadt leistet sich den Luxus von 55 Beratern, die Vollzeitverträge haben und zum Teil fünfstellige Gehälter und Kommissionen beziehen.» Bisher hätten Gemeinden ihre exorbitanten Ausgaben durch den Verkauf von Bauplätzen finanziert. «Das ist nun zu Ende.»
Kluft zwischen Konservativen und Sozialisten
Die Sozialisten, in den Kommunal- und Regionalwahlen vom 22. Mai 2011 hart abgestraft, stellten seit dem Übergang zur Demokratie 1978 meistens die Zentralregierung. Sie haben manche Lebensbereiche forciert säkularisiert (von katholischen Vorgaben befreit) und damit die zuvor von Diktator Franco gegängelte Gesellschaft polarisiert. Auch in der Krise stehen sich die beiden Lager unversöhnlich gegenüber.
Das Hin- und Herschwanken zwischen militantem Säkularismus und dem Nationalkatholizismus hat tiefe Wurzeln. Hutter verweist auf den spanischen Bürgerkrieg (1936-39). «Der Graben ist durch die Regierung Zapatero noch tiefer geworden.» Bis heute sei es in Spanien nicht möglich, die Franco-Diktatur in der Öffentlichkeit sachlich zu diskutieren.
Welche Signale senden die Bischöfe in der Krise? «Die katholische Kirche sendet keine Signale. Die Bischofskonferenz lebt isoliert von der Gesellschaft.» Die Missbrauchsskandale seien in Spanien lange vor den Schlagzeilen im restlichen Europa bekannt gewesen. «Man redet nur nicht darüber. Es gibt in Spanien Tausende von unehelichen Kindern von Priestern, die stillschweigend von der katholischen Kirche finanziell unterstützt werden. Das ist kein Geheimnis.» Auf dem Land erzählte hinter vorgehaltener Hand jeder, was die Priester treiben.
Helfen, wo man kann
Die evangelischen Gemeinden sind in den meisten Landesteilen dünn gesät und klein. Manche helfen jungen Frauen und Männern ohne berufliche Zukunft, indem sie kostenlose Informatikkurse anbieten oder Gebraucht-Kleidung und Lebensmittel abgeben. Hutter: «Als theologisches Seminar versuchen wir, unseren Unterricht an die Bedürfnisse derer anzupassen, die wenig finanziellen Spielraum haben.»
SEFOVAN verlangt nur symbolische Studiengebühren. «Wir vertrauen darauf, dass Gott das notwendige Geld durch Spenden schenkt. Wir haben noch nie einen Studenten abgewiesen, nur weil er arbeitslos ist und kein Geld hat. Und wir werden das auch in Zukunft nicht tun.» Insgesamt hat sich in den evangelischen Gemeinden Spaniens in den letzten Jahren wenig geändert. Nach der Einreise von zehntausenden lateinamerikanischen Immigranten stagniert das Wachstum, durch Rückwanderung schrumpfen manche Gemeinden.
«Eine geistliche Krise»
Spanien stürzte 2008 in die Krise, als der immense Bauboom abrupt endete. Der Wunsch nach den eigenen vier Wänden trug diesen Boom. «Spanier haben eine abgrundtiefe Aversion davor, von anderen abhängig zu sein. Ein Häuschen an der Küste oder auf dem Land ist eine Form, seine Unabhängigkeit zu wahren.» Zudem könne in Immobilien unversteuertes Geld angelegt werden. Laut Hutter läuft mindestens ein Viertel der Volkswirtschaft schwarz.
Dass Spanien mit Portugal im Sumpf steckt, hat kulturell-religiöse Gründe. Für Uwe Hutter ist die Wirtschaftskrise im Kern eine geistliche Krise. «Es liegt in der Natur des iberischen Katholizismus, dass Lüge und Betrug Teil des Geschäfts sind. Man lacht nur, wenn z.B. die spanische Regierung offizielle Zahlen nennt. Die glaubt hier niemand und schon gar nicht die Leute in der Regierung, die sie veröffentlichen.» Die wirkliche Lage sei wesentlich ernster. Im Moment klammerten sich Leute noch an die «letzte Lüge»: dass ihre Ersparnisse und Renten sicher sind. «Wenn sich das ändert – und es kann morgen soweit sein –, dann ist die Griechenlandkrise im Vergleich dazu eine Gartenparty.»
Datum: 28.05.2011