Die besondere Transformation

Reformation und Freikirchen verwandeln orthodoxe Kirchen

Am 18. Oktober ist im indischen Trivandrum der 90-jährige Metropolit Joseph Mar Thoma gestorben. Sein Tod erinnert daran, dass er der einzigen orientalischen Kirche vorstand, die sich in ihrer Gesamtheit der Reformation und später evangelikalem Einfluss geöffnet hat. Der Hintergrund.
Der Metropolit Joseph Mar Thoma (Bild: Wikipedia)

Die Mar-Thomas-Kirche zählt rund eine Million Gläubige. Sie führt sich laut Überlieferungen auf den Apostel Thomas im Süden Indiens zurück. Historisch verbürgt ist das Wirken syrisch-orthodoxer Glaubensboten im Mittelalter. Im späten 19. Jahrhundert fand sie Anschluss an die evangelische Welt.

Reformatorische Erneuerung der Orthodoxie

Die reformatorischen Christen waren von Anfang an bemüht, ihre Kirchenerneuerung auch in die Orthodoxie einzubringen. Allerdings waren dort ihre volkstümlichen Anliegen wie Bibel und Gottesdienst in der Volkssprache, Abendmahlsspendung mit Brot und Wein oder die Priesterehe seit eh und je selbstverständlich. Zu einer eigentlichen Reform kam es erst, als evangelische Freikirchen und Erweckungsimpulse Alternativen zum orthodoxen Staats- und Landeskirchentum und besonders zur äusserlichen Werkgerechtigkeit anboten.

Das «Wahre Christentum» wirkt

Der erste starke Impuls ging vom Pietismus in Halle aus. Dort übersetzte 1735 der russische Student Simon Todorski das «Wahre Christentum» von Johannes Arndt ins Kirchenslawische und verbreitete es nach seiner Heimkehr in Russland. Dieses erfolgreichste Werk deutscher Erbauungsliteratur wurde dort zwar später von der amtlichen Orthodoxie verboten. Dank des Bischofs Tichon von Zadonsk, eines Wegbereiters der spirituellen Erneuerung im so genannten Starzentum, erlangte es jedoch grossen Einfluss auf die russische Volksfrömmigkeit. Doch kam es zu keiner eigenen Kirchengründung.

Eine solche erfolgte erst nach der Bekanntschaft mit dem Pietismus deutscher Einwanderer, die vor ihrer landeskirchlichen Ausgrenzung Zuflucht in den Weiten Russlands suchten. Nach dem Vorbild ihrer Gebets- und Bibelstunden bildeten sich zuerst ukrainisch-russische Freikirchen: die «Stundisten». Auch freikirchliche Orthodoxe, sogenannte Altgläubige, stellten sich ganz auf den Boden der Bibel, bekannten sich zu einem «spirituellen Christentum» und tranken auch an orthodoxen Fasttagen die mit dem Fleisch verbotene Milch, weshalb sie Molokanen (Milchtrinker) genannt wurden.

Die «Pietistische Union»

Während beide Gemeinschaften von der russischen Orthodoxie bis heute als Sekten abgetan werden, so hat bei Armeniern und Kopten die evangelische Erweckung zu bedeutsamen Kirchengründungen geführt. In Istanbul schlossen sich Studenten des 1828 gegründeten Theologischen Seminars Surp Hac – an jener Ausbildungsstätte, die schon seit 1971 vom türkischen Staat unterdrückt wird – zu einer «Pietistischen Union» zusammen. Nach ihrer Ordination verbreiteten sie die «Pietistische Bewegung» in vielen Gemeinden des Osmanischen Reichs. Der armenische Patriarch Matheos II. exkommunizierte 1846 ihre Anhänger.

Armenisch-Evangelische Kirche gegründet

Daraufhin gründeten 37 Männer und drei Frauen die Armenisch-Evangelische Kirche. Sie ist inzwischen besonders in der armenischen Diaspora weit verbreitet. Einer ihrer Schwerpunkte, Aleppo, liegt heute in Syrien und hat dort den Bürgerkrieg überlebt. Die schwer beschädigte Immanuel-Kirche wurde vom deutschen Gustav-Adolf-Werk 2018 wieder aufgebaut. In Ägypten war die Koptische Evangelische Kirche weniger als die orthodoxen Kopten den Verfolgungen unter den Präsidenten Sadat, Mubarak und vor allem dem Muslim-Bruder-Staatschef Muhammad Mursi ausgesetzt.

Zuvor wurden allerdings unter Nasser in den 1960er Jahren bevorzugt evangelische Einrichtungen konfisziert. Das wurde von dem sowjetfreundlichen «Roten Pharao» damit begründet, dass es die amerikanische Presbyterian Church war, die seit 1863 Jesus und sein Evangelium in Ägypten unter Kopten und Muslimen verkündet hat. Immerhin konnte sie etwa 300’000 aus Islam erweckte Christen gewinnen. Seit 1958 sind die koptischen Evangelischen eine unabhängige Freikirche.

Eine Kirche erneuert sich

Nach wie vor bilden aber bei Armeniern und Kopten die Orthodoxen eine überwältigende Mehrheit. Weshalb sich in Indien dagegen die gesamte Mar-Thomas-Kirche der Erneuerung durch persönliche Erweckung auf dem Fundament der Bibel geöffnet hat, hing dort mit ganz besonderen Umständen zusammen: Das einheimische indische Christentum syrisch-orthodoxer Prägung hatte seit dem 16. Jahrhundert schwer durch seine Zwangskatholizisierung unter portugiesischer Kolonialherrschaft gelitten.

Auch nach der späteren Abkehr vom Papst zum Patriarchen von Antiochien blieb die Mar-Thomas-Kirche schwer geschädigt: Es gab keine Schulung für die Kleriker, das Abendmahl wurde nur gegen Zahlung hoher Gebühren gespendet, die Gotteshäuser und kirchlichen Liegenschaften waren von den Gemeinden in den Besitz einzelner Profiteure geraten. Dagegen erhob sich Metropolit Thomas Mar Athanasius, indem er mit einer Reform und geistlicher Erneuerung gegen die Missstände vorging. 1888 erklärten sich die Mar-Thoma-Christen geschlossen als Freikirche in Gemeinschaft mit der «Anglican Communion».

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Datum: 10.11.2020
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

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