Wenn Gott weit weg ist
«Ich fühle mich von Gott verlassen», bekennt eine Mutter, als ihre 15-jährige Tochter an Blutkrebs erkrankt. «Ich bin seit fast 40 Jahren Christ, doch das hatte ich noch nicht erlebt: nichts mehr von Gott zu erahnen, keine Antwort mehr zu bekommen. Das war brutal. Ich war tief zerbrochen und durchlitt das Wort Jesu am Kreuz ‚Warum hast du mich verlassen?’ in aller Härte.»
Auch geistlicher Missbrauch kann dazu führen, dass Menschen Reich Gottes, Gott nicht mehr erleben können. So formuliert Sonja S.: «Ich hatte alle Sicherheiten verloren. Meine Gesundheit litt. Ich war dem Selbstmord nahe und fühlte mich vor allem von Gott verlassen. Ich verstand nicht, was für eine Sünde ich begangen haben sollte, dass sogar Gott mich verstösst.»
Jürg Zürcher, Klinikpfarrer, berichtet aus einem Gespräch mit einer Frau: «Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich von Gott und der Welt verlassen vorkomme in meinen Depressions-Zeiten». Das Empfinden für Gottes Nähe kam dieser Frau abhanden, ihr Schmerz darüber wurde noch verstärkt durch das Wissen, dass das bei ihr einmal anders war. Die Frau war zur Expertin geworden dafür, wie sehr das Glaubens-Empfinden zur Welt der Gefühle gehört. Fällt die Gefühlswelt in sich zusammen, kann es sein, dass auch im Glauben nichts mehr empfunden wird, Aussagen wie: «Gott trägt mich in allem» oder «Ich weiss, dass mein Erlöser lebt» werden nur noch als leere Worthülsen empfunden.
Wenn ein Zuspruch zur Überforderung wird
Der Seelsorger Kurt Scherer erinnert sich an seine eigene Erschöpfungsdepression, wo er die Glaubenszusagen nicht nur leer, sondern als niederschmetternde Überforderung empfand. Er wollte – konnte nicht glauben. So wurde aus einem Zuspruch eine Anforderung, der er nicht genügen konnte.
Mitmenschen sind meist überfordert und hilflos. Sie schaffen es nicht, in die Tiefen mitzugehen, wollen vorher ermuntern mit «Mutmachsprüchen» – die nicht ankommen –, geben heillose Tipps oder sogar Schuldzuweisungen weiter. Damit entsteht eine neue Belastung und Distanz.
Krankheit und Zweifel
Es gilt festzuhalten, dass es Zeiten geben kann, in denen man nicht glauben kann, diese können ein Teil der Krankheit sein. Eugen Rosenstock (ein Jude, der zum Christentum übergetreten ist) formuliert anthropologisch (aus der Sicht des Menschen) treffend: «Niemand glaubt immer. Wir brauchen einander, weil jeder von uns zeitweilig nicht glaubt.»
Der Glaube ist etwas, was mir ausserhalb meiner Person geschenkt wird. In der Gesundung meiner Person – und das gilt für andere Lebensbereiche gleichermassen – kann der Glaube wieder emotional neu als kleine keimende, wachsende Pflanze erlebt werden. So möchte ich Mut machen, auch diese Not vor Gott auszusprechen, gemeinsam vor Gott als Klagegemeinschaft auszuhalten im Wissen, dass Gott wieder emotional erlebbar einziehen kann. Manchmal braucht es viel Geduld – ohne Verurteilung und mit «stellvertretenden Glauben». Moralin, Schuldzuweisungen und Ähnliches sind mehr als fehl am Platz. Es braucht oft Geduld bis Gott, Jesus Christus, sein Geist wieder emotional erlebt werden kann.
Datum: 20.11.2012
Autor: Andreas Reich
Quelle: Wort + Wärch