Zuwenig Kinder – Die Debatte ist entfacht

Cover von „Minimum“ – das neue Buch von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher
Beat Kappeler
Brigitte Häberli-Koller

„Minimum“ – das neue Buch von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher rüttelt auf. Es hat am letzten Freitag das Thema der Sendung Arena des Schweizer Fernsehens initiiert. Die Sendung zeigte indessen, dass die „Classe Politique“ den Ernst der Lage noch verkennt.
Unter der Leitung von Urs Leuthard diskutierten im Fernsehstudio der Publizist Beat Kappeler, die CVP-Nationalrätin Brigitte Häberli-Koller, SP-Nationalrätin Chantal Galladé und EDU-Nationalrat Christian Waber.

Beat Kappeler (2 Kinder) erinnerte an die Forderung, dass beide Partner ihr Pensum auf 70-80 % kürzen, um sich in der Kindererziehung abzuwechseln. Für ihn ist klar: „Europa und die Schweiz werden aussterben, hoch gebildet und reich, wenn es so weiter geht“. Chantal Galladé (allein erziehende Mutter eines Kindes) forderte ein verstärktes finanzielles Engagement des Bundes. Entscheidend ist für sie, dass alle Kinder die gleichen Voraussetzungen für ihre Zukunft haben. Dabei steht sie für stark diversifizierte Familienformen ein.

Familie als Übungsfeld sehen und fördern

Christian Waber (4 Kinder) vertritt ein traditionell-christliches Familienbild, sieht dieses aber in Bewegung. Die Einverdiener Familie könne heute nicht mehr die Norm sein. Die traditionelle Familie sei aber ein wichtiges Übungsfeld für das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft. Diese müsse die Familie anerkennen und wertschätzen. Er forderte ein Kampagne, welche die Freude am Familie-Sein und ihre Lebensqualität hervorhebe. Er betonte aber auch die Verbindlichkeit und Verantwortung als wichtige Rahmenbedingungen der Familie.

Verschiedene gleich legitime Familienformen?

Brigitte Häberli, die sich in der ersten Ehephase auf die Erziehung ihrer drei Kinder konzentrierte, will sich auf keine Familienform als Idealfamilie festlegen sondern unterstützt die neue Anschauung verschiedener gleich legitimer Familienformen. Viele Junge fühlten sich von der Anforderungen an eine dauerhafte Familie und die Verantwortung für Kinder und ihre richtige Erziehung überfordert. Kappeler reagierte darauf, dass gerade der schweizerische Perfektionismus viele pragmatische Lösungen bei der Kinderbetreuung verhindere.

Interessant waren zum Teil die Beiträge aus der ersten Reihe. Gerhard Fischer (Grossrat EVP ZH, 10 Kinder) setzte sich für ein kinderfreundliches Klima im Land ein. Dies könne sich zum Beispiel in einem ehefreundlichen Steuersplitting ausdrücken. Oder in der Berücksichtigung der Kompetenzen, die sich Frauen in der Erziehungsarbeit erwerben, bei Anstellungen in den Unternehmen.

Wieviel Generationen-Solidarität wird kinderlosen Paaren abgefordert?

Norbert Hochreutener (CVP BE) brachte den Gedanken eines Lastenausgleichs zwischen Eltern und Kinderlosen bei den Sozialversicherungsprämien ins Spiel. Er betonte dabei den Solidaritätsgedanken, stiess aber trotzdem – von Waber abgesehen – auf erheblichen Widerstand. Die Zeit scheint in der Schweiz noch nicht reif für neue Ansätze zu sein, solange trotz der bedrohlichen demografischen Lage auch kleine Schritte mit dem Brecheisen erzwungen werden müssen.

Ursula Vögeli (9 Kinder) von der „Interessengemeinschaft Familie 3plus“ setzte sich für die Existenz von Grossfamilien ein. Sie erwartet vor allem Entlastungsmassnahmen bei Steuern und Abgaben. Und Käthi Kaufmann (5 Kinder), Geschäftsführerin der IG3plus, betonte, dass auch Grossfamilien eine realistische Option seien. Ab dem 3. Kind sinke der Betreuungsaufwand. Der Gesellschaft obliege es, auch grossen Familien finanziellen Spielraum zu ermöglichen. Auch bei den nötigen Einschränkungen und nur einem Einkommen gebe es in Grossfamilien Lebensqualität, betonte Ursula Vögeli.

Nach dem Jugendkult der Egoismus der Alten?

Eine völlige Werteverschiebung in der Gesellschaft befürchtet Beat Kappeler, wenn die Kinderarmut anhält. Die Gesellschaft werde immer stärker von Werten geprägt, die den alten Menschen wichtig seien. Es komme zu einem Verlust an Dynamik. Kappeler: „Wir spüren schon heute, dass wir verarmen, wenn wir keine Kinder mehr haben.“ Und Waber warnte davor, die Lösung in einer verstärkten Immigration zu suchen. Galladé ergänzte: „Wir kommen nicht darum herum, über vermehrte Investitionen in unsere Kinder nachzudenken.“

Es zeigte sich, dass wohl nicht alle Gesprächsteilnehmer das Buch „Minimum“ von Frank Schirrmacher gelesen haben. Denn wenn er nur zur Hälfte recht hat, ist das bedenklich genug. Schirrmacher leistet den Beitrag, innerhalb eines breiten Spektrums die verschiedenen Auswirkungen auf eine kinderarme Gesellschaft aufzuzeigen: Wirtschaftlich, psychologisch, kulturell, finanziell … Er zeigt erschreckende Folgen auf, die noch kaum erahnt worden sind, und er kann sich dabei immer auf seriöse Analysen berufen.

Auch wenn man seinen evolutionsbiologischen Ansatz kritisieren kann, muss das Buch von der Politik zur Kenntnis genommen werden. Insbesondere für die Frauen sieht er schwierige Zeiten kommen. Es wäre alles daran zu setzen, das Ruder herumzuwerfen. Auch so wird es Europa in den kommenden Jahrzehnten nicht einfach haben.

Statements der Sendung
www.sf.tv/sf1/arena/index.php?docid=20060331

Datum: 07.04.2006
Autor: Fritz Imhof
Quelle: SSF

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