Der Massstab für die Schuld ist das, was ungetan blieb vom Willen Gottes
Nach den Worten Jesu ist die menschliche Schuld nicht so sehr zu ermessen an dem, was einer gegen ausdrückliche göttliche Verbote tat, als an dem, was ungetan blieb vom Gebot Gottes.Das vernichtende Urteil beim letzten Gericht ergeht auf Grund dessen, was die Verurteilten nicht getan haben an den geringsten Brüdern Christi (Matth. 25,41-46). Auch nach dem einfachen Wortsinn bedeutet Schuld das, was ein Mensch schuldig geblieben ist. Es ist von ihr in der Einzahl zu sprechen und doch auch in der Mehrzahl.
Im Vaterunser heisst es nach dem Urtext: »Vergib uns unsere Schulden.« Im Gleichnis vom Schalksknecht ist die Rede von der Schuld des Mannes (Matth. 18,27.32). Damit stellt Jesus dieselbe Sache unter zwei Gesichtspunkte.
Die Kapitalschuld ist das Fehlen der grossen Ergriffenheit
Was wir Gott schuldig blieben, ist schliesslich eins: die grosse Ergriffenheit, die rückhaltlose Hingabe; der quellende, heisse, stürmische und doch stetige, gleichmässige Wille, ihm zu dienen; die Ehrfurcht vor dem Bild Gottes im Mitmenschen, die Lust, ihm zu helfen; die vollkommen gelöste Güte gegen Freund und Feind; mit einem Wort: die Liebe zu Gott und seinem Werk.Dass diese Liebe von ganzem Gemüte nicht da ist, das ist die Kapitalschuld oder das Schuldkapital; das ist der Millionenfehlbetrag in der Abrechnung des königlichen Ministers (Matth. 18,23.24). Aus dieser einen Schuld stammen schliesslich alle einzelnen Schulden.
Unweigerlich ernst zu nehmen sind auch die bestimmten Fälle, wo wir etwas schuldig blieben, das heisst unsere Schulden
Aber Jesus lehrt uns nicht stehenbleiben bei der ganzen Schuldsumme. Wir können unser Gewissen leicht beschwichtigen mit der Erwägung, dass nun einmal dieses grosse Generalmanko da ist in unserem Leben. Wir meinen, wir hätten nicht anders können, als auch im einzelnen Gott und den Menschen die Liebe schuldig bleiben.Aber Jesus heisst uns eben die einzelnen Schulden sehr ernst nehmen. Gerade um ihretwillen bedürfen wir der Vergebung: »Vergib uns unsere Schulden.« Gerade das, was ein Mensch in einzelnen konkreten Fällen seinen Mitmenschen schuldig geblieben ist, kann ihm einmal zum Verhängnis werden. Oder sind es nicht ganz bestimmte versäumte Gelegenheiten, die einmal im Leben da waren, von denen der Richter im Gleichnis spricht: »Ihr habt mich nicht gespeist, nicht getränkt, nicht besucht.«
Schulden im Sinne der Fünften Bitte entstehen immer da, wo jemand einen göttlichen Auftrag überhört, einen gottgewiesenen Weg nicht geht. Schulden setzt es, wenn einer eine gottgegebene Gabe nicht dienstbar macht, eine gottgeschickte Prüfung nicht ernst nimmt, eine Möglichkeit, durch Glauben und Bitten für sich und andere etwas zu erlangen, versäumt.
Die Schuld ist bei allen Menschen im wesentlichen die gleiche. Die Schulden sehen bei den einzelnen Menschen sehr verschieden aus. Das Mass der Schuld ist zu bemessen nach dem Hauptgebot der Liebe, das Mass der Schulden nach den besonderen Gaben, Aufgaben, Gelegenheiten, Führungen der einzelnen Menschen. Erst wenn der Mensch seine Schulden ernst nimmt, kann ihm seine Schuld vergeben werden.
Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch