Versöhnung

„Ich muss mir nicht mehr einreden, ich sei schön“

Ein Auto. Ein Knall. Und von einer Minute auf die andere war im Leben von Cornelia Rutz nichts mehr so, wie es gerade noch gewesen war. Cornelia war fünf Jahre alt, als ihr eine Autofront das Gesicht zertrümmerte.
Ihr schönes Kindergesicht war fast völlig zerstört.
Unfall1
Versöhnung - ein Geschenk Gottes - lässt sie wieder froh werden.

Als junges Mädchen rannte Cornelia über die Strasse und verlor ihr Gesicht. Ihr schönes Kindergesicht war fast völlig zerstört. Der Aufprall an der Autofront und das Glas des Scheinwerfers hatten grausam gewirkt. Die Ärzte gaben ihr kaum Überlebenschancen. Atmen konnte sie nur noch dank eines Luftröhrenschnittes. Die Kiefer- und Backenknochen waren gebrochen, von der Nase konnte nur die Spitze gerettet werden. Ein Auge ging beinahe ganz verloren.

Die Gegenwart wird manchmal durch die Vergangenheit blockiert. Wenn der Lebensweg durch Ereignisse abgeschnitten wird oder wenn erhoffte Ziele nie erreicht werden können. Krankheit, Krieg, Gewalt, Unfall, Behinderung, Scheidung, Tod oder die Summe vieler kleiner Ereignisse können Menschen aus der Bahn werfen. Allzuleicht verbittert man, hegt Rachegefühle, klagt man an.

Loslassen - vergeben

Gerade dann ist aber loslassen angesagt. Das fällt nicht leicht. Muster haben sich entwickelt. Lebensstrategien sind zu Krücken geworden, ohne die zu leben man kaum mehr wagt. Doch es gibt letztlich nur diesen einen Weg der inneren Heilung: Loslassen und vergeben!

Als mein Lebensweg vor einigen Jahren plötzlich abgeschnitten wurde, war ich mit ‘tausend’ Steinen der Erinnerung beladen. Während zwei Stunden ging ich in Erinnerung durch die Vergangenheit. Ich sprach alle Schmerzen und Erlebnisse aus und fügte immer hinzu: „...überlasse ich dir!“ Ich übergab die Erinnerungen Gott, weil ich genau wusste, dass er immer bei mir ist. Er versteht mich. Er kann heilen und vergeben. Nun muss ich keine Schuld verteilen und keine Last mehr selber tragen. Mein Herz wurde von der Vergangenheit entlastet. Die Erinnerungen sind zwar noch da, aber sie belasten mich nicht mehr. Cornelia Rutz kann heute nicht mehr sagen, wie oft sie für Operationen im Spital lag. Sie erinnert sich aber sehr wohl an die unzähligen Abschiede von zu Hause und an die Einsamkeit im Spital. „Ich weinte erst, wenn ich allein war, dann erst flossen die Tränen leise ins Spitalkissen.

Ich fürchtete die Narkosen

Am meisten hatte ich Angst vor der Narkose. Die Narkoseschwester hasste ich. Am Abend vor den Operationen betete ich oft: „Herr Jesus mach bitte, dass ich noch schlafe, wenn sie mich abholen.“ Ich hoffte, so der Angst vor der Narkose zu entgehen. Doch ich war immer wach, wenn die Schwester kam.

Die schwierige Heilung

Cornelia erachtet es heute als ein grosses Wunder, dass sie noch beide Augen hat. Sehen kann sie zwar nur mit einem, weil der Sehnerv des rechten Auges von einem Splitter durchtrennt wurde. Doch das Auge lässt sich wieder koordinieren. Ihr Nasenbein fehlte jahrelang. «Zwischen den Augen war es einfach flach.» Mehrmals versuchte man eine künstliche Nase einzupflanzen. Erfolglos. Erst ein Implantat aus eigenem Hüftknochen, mit Haut von der Stirne, wurde nicht mehr abgestossen. Unschöne Narben mussten wieder aufgeschnitten werden. Cornelia zeigte mir Fotos, auf denen grosse, geschwollene Blutergüsse zu sehen waren. Augen und Nase konnte ich kaum erkennen. Noch heute hat sie leicht dunkle Augenränder. Die Blutergüsse haben das Gewebe unter den Augen verfärbt. «Früher waren diese blauschwarzen Stellen wesentlich grösser. Aber schlimmer war die fehlende Nase und all die Schmerzen nach den Operationen. „Ich habe sie einfach erduldet. Ich hatte keine Wahl.“ Cornelias Leben wurde über viele Jahre von diesem Unfall geprägt. «Die ersten Jahre nach dem Unfall war ich sehr oft im Spital. Eine Operation folgte der anderen.» Cornelia wurde eine Aussenseiterin.

Es entwickelten sich Mechanismen, die ihr ganzes Leben bestimmten. Sie begann sich abzulehnen. Manchmal wollte sie nicht weiterleben. Vor etwa fünf Jahren suchte sie Hilfe. Sie entschied sich, der Vergangenheit in die Augen zu schauen. Sie liess Gott an sich heran. Sie liess ihren Tränen freien Lauf. Sie entschied sich zur Versöhnung und erlaubte dem Schmerz der Vergangenheit aus seinen verborgenen Tiefen herauszukommen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Nach vielen Jahren des inneren Leidens, erzählt sie heute offen und ohne Bitterkeit ihre Geschichte.

Anklage weicht dem Zeugnis

Sie hält Vorträge und schildert ihre Erlebnisse. «Der Umgang mit meiner Geschichte war nicht einfach. Aber ich habe dadurch Gottes heilende Liebe und Gegenwart in ungeahnter Kraft erlebt.» Cornelia versuchte jahrelang jede zusätzliche Ablehnung zu vermeiden. Durch ihr Aussehen wurde sie oft ausgegrenzt. Nun musste der Schaden begrenzt werden. Sie lernte, nett und angepasst zu sein. «Ich hatte keine Freundin. Auch wenn für Spiele Mannschaften zusammengestellt wurden, war ich immer die Letzte, die gewählt wurde. Nur durch ständiges Anpassen gehörte ich dennoch dazu.» Wirklich ausgelacht wurde Cornelia zwar selten.

Schönheiten haben es leichter

Am meisten irritierte ihr Aussehen die Menschen, wenn sie keine Brille trug. Im Schwimmbad beispielsweise kam es schon mal vor, dass ein Kind vor ihr stand und zur Mutter sagte: «Schau mal, die hat keine Nase.» Ablehnung vermeiden wurde zum System. Nur nicht auffallen, immer ja sagen, auch wenn eigentlich ein Nein richtig wäre; nicht rebellieren, nicht die eigene Meinung vertreten. Durch die vielen Ausfälle war sie in derselben Schulklasse eingeteilt wie ihre jüngere Schwester Regula. Cornelia fühlte sich oft von ihr verdrängt. Regula konnte sich viel besser durchsetzen. Sie stand oft im Mittelpunkt, während Cornelia unscheinbar blieb und an den Rand gedrängt schweigend litt. Still aushalten, auch wenn das Herz schreit. Mitmachen, damit man nicht abgelehnt wird. Diese beiden Lebensregeln bestimmten Cornelias Verhalten weitgehend. Je älter Cornelia wurde, desto mehr lehnte sie sich ab. Sie mied den Spiegel. Sie versuchte nicht aufzufallen und trug deshalb unaufällige Kleider. Sie verdeckte ihre Narben, so weit es ging, mit einer grossen Brille und lenkte oft mit Foulards von ihrem Gesicht ab. Ein Leiden ohne Ende.

Gottes Liebe hat mich durchgetragen

„Doch der Glaube an Jesus Christus gab mir die Kraft weiterzuleben und alle Operationen zu ertragen.“ Cornelia besuchte schon als kleines Kind gerne die Sonntagsschule. Mit 14 Jahren nahm sie an einer christlichen Veranstaltung Jesus als ihren persönlichen Retter und Freund in ihr Leben auf. Heute ist sie überzeugt, dass ihre Gottesbeziehung über Sein oder Nichtsein entschieden hat. Damals beim Unfall und im langen leidvollen Weg danach. Trotz den körperlichen und seelischen Schmerzen fand sie immer wieder Halt im Glauben. Mehr und mehr begann Cornelia zu glauben, dass Gott sie liebt. Diese Gewissheit gab ihr Kraft, die Schmerzen auszuhalten und weiterzugehen. Doch die inneren Wunden liessen sie nicht zur Ruhe kommen. Sie spürte, dass sie das Erlebte irgendwie aufarbeiten musste, denn sie hatte sich in all den Jahren niemandem wirklich geöffnet. Ein wichtiger Punkt in der Geschichte war ihre Beziehung zum Vater. Vier Jahre nach Cornelias Unfall lag auch er schwer verletzt im Spital. Er war vom Heustock gefallen, wurde pflegebedürftig und konnte von da an nie mehr sprechen. 10 Jahre nach seinem Unfall starb er.

Versöhnung mit dem Vater

Cornelia ging immer gerne zu ihrem Vater ins Spital. Sie wusste, dass sie als kleines Kind sein Liebling gewesen war, und auch sie liebte ihn. Weil der Vater nun ans Bett gebunden war, war er nun ganz für sie da. Cornelia spürte, dass auch sie ihm mit ihrer Gegenwart etwas geben konnte. Die zeitweise zerstörte Beziehung konnte nun gerettet werden. Endlich hatte sie den Vater wieder! In den letzten Monaten vor seinem Tod arbeitete sie im Pflegeheim und konnte sich in der Mittagspause regelmässig zu ihm setzen. Cornelia schenkte ihm auf diese Weise ihre Liebe und kompensierte gleichzeitig ihren eigenen Schmerz. „Als ich anfing meine Vergangenheit aufzuarbeiten, wusste ich, dass auch in meine Beziehung zum Vater Licht kommen musste. Ich fürchtete mich davor, vieles stand zwischen uns und ich wollte wieder ein gesundes Verhältnis zu ihm finden und ihn gleichzeitig loslassen.

Vergebung und nochmals Vergebung

Als sie endlich mit der Entscheidung an sein Grab ging, sich ganz bewusst vom Vater zu verabschieden: Für jedes ihrer Lebensjahre legte sie ihm eine Rose aufs Grab. Sie vergab ihm alle Verletzungen und spürte dabei, dass eine entscheidende Veränderung in ihr geschah. Am Abend war dann die ganze Familie zusammen. Und wie jedes Jahr besuchten sie nach der Familienfeier den Gottesdienst. Auch ihr Bruder Chrigi kam mit. Cornelia fragte Chrigi nach dem Gottesdienst: «Kommst du mit mir zum Grab?» Er wusste nichts von dem, was sich dort am Nachmittag abgespielt hatte. Beim Grab erzählte sie ihm, dass sie sich ganz bewusst vom Vater verabschiedet habe. Jetzt brach der ganze Schmerz aus ihr heraus und sie fiel ihrem Bruder um den Hals. «Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so geweint.» Chrigi nahm Cornelia stellvertretend für den Vater in die Arme und löste dadurch eine ganz tiefe Spannung in ihrer Seele, endlich die immer ersehnte Umarmung! Doch es brauchte noch einen weiteren Schritt: Cornelia besuchte ein christliches Seminar über Familien- und Elternbeziehungen. Der Leiter bat die Teilnehmer stellvertretend für ihre Väter um Vergebung. Er übernahm die Verantwortung für die Fehler und Verletzungen der Väter an ihren Söhnen und Töchtern.

Eine neue geistige Dimension

Noch einmal sprach Cornelia ihrem Vater Vergebung zu. «Obwohl es nicht einfach war, den alten Schmerz nochmals hervorkommen zu lassen, berührte mich dieses stellvertretende Handeln stark. Es führte mich in eine tiefe geistige Erfahrung.» Es entstand eine neue Beziehung zum Vater. Und gleichzeitig begann ein tieferes, innigeres Verhältnis zu ihrem himmlischen Vater, zu Gott. Cornelias Glaube bekam eine neue Dimension. Cornelia hatte sich in ihrem Leben oft einsam und verlassen gefühlt. In ihrem Innersten steckte auch ein Vorwurf gegenüber Gott: «Wo warst du? Warum hast auch du mich allein gelassen?» Noch immer gefangen in diesem Schmerz, lief eines Tages ihr Leben wie ein Film vor ihren Augen ab. Die Tränen wollten nicht aufhören zu fliessen. Eine Freundin, die bei ihr war, sagte immer wieder: «Vergib! Cornelia vergib!» Viele schmerzvolle Szenen ‘wanderten’ vorbei. Bei jeder einzelnen sprach sie Vergebung aus: Ärzten, Schwestern, Lehrern, Freunden, Schulkameraden, allen Menschen, die sie irgendwann verletzt hatten.

Schönes kam zum Vorschein

Und dann entstanden plötzlich auch schöne Bilder und Erinnerungen. «Ich wusste nicht, dass es in mir auch so viele schöne Erinnerungen gibt.» Als Cornelia später für ihren ersten Vortrag über ihr Leben angefragt wurde, realisierte sie nochmals intensiv, was Heilung von seelischen Verletzungen bewirken kann: «Ich erlebte das Wunder, in Freiheit vor Menschen stehen und sprechen zu können. Während ich sprach, fühlte ich mich ganz tief von Gott geliebt. Ich merkte, ich bin ihm ganz wichtig. Und wusste zutiefst, dass ich für Jesus vor den Menschen stehe. Er hat mir die Kraft gegeben, an meiner Vergangenheit zu arbeiten. Er hat mich geheilt.» Durch all diese Prozesse und Erfahrungen lernte Cornelia, sich anzunehmen. «Ich muss nicht mehr versuchen, mir einzureden ich sei schön, denn Gott hat mich gut gemacht und nun weiss ich: Seine tiefe, heilende Liebe ist in mir!»

Datum: 06.10.2004
Autor: Hans Ueli Beereuter
Quelle: Bordzeitung - Texte zum Leben

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