Ehemaliger Kantonsarzt

«Es geht jetzt um den Schutz krankheitsanfälliger Menschen!»

Hans Gerber war von 2004 bis 2010 Kantonsarzt im Kanton Bern und musste sich dabei auch mit der Gefahr von Epidemien auseinandersetzen. Unter anderem hielt ihn 2009 die Schweinegrippe auf Trab. Was denkt der 70-jährige Emmentaler über die aktuelle Situation mit dem Coronavirus? Was empfiehlt er den Christen im Land?
Hans Gerber (Bild: Livenet)
Hans Gerber

Livenet: Hans Gerber, wie verfolgen Sie heute als Rentner die Entwicklung rund um das Coronavirus?
Hans Gerber
: Die Entwicklung rund um das Coronavirus verfolge ich seit den Anfängen, jedenfalls sobald diese neue Infektionskrankheit für die medizinische Welt und die Medien sichtbar wurde. Als Mediziner sehe ich zunächst einmal die betroffenen Menschen, die Patienteninnen und Patienten und ihr Umfeld mit ihren ganz unterschiedlichen Geschichten und Schicksalen. Dankbar schaue ich auf alle, die sich jetzt «an der Front» auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, aber auch in Praxen und Spitälern engagieren. Nach meiner Einschätzung finden die Behörden im ganzen Gewirr der Stimmen und Meinungen bisher die richtige «Flughöhe». Es ist immer so, dass man für die einen zu viel tut und für die anderen zu wenig. Aber ich denke, bisher wurden die richtigen Massnahmen im richtigen Mass gefunden.

Macht Ihnen die aktuelle Situation Angst, Herr Gerber?
Angst habe ich nicht, aber Respekt schon, gerade weil der weitere Verlauf so schwer abschätzbar ist. Der WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus hat dieser Tage die Situation gut beschrieben und gesagt, wir seien mit dieser Epidemie in «uncharted territory», also in nicht-kartografiertem, unbekanntem Terrain. Ich nehme aber trotz dieser Unsicherheiten auch wahr, dass in der Schweiz auf allen Ebenen gute Lehren aus vorherigen «halbscharfen Übungen» gezogen und Optimierungen in der Pandemiebewältigung vorgenommen wurden. Mit «halbscharfer Übung» meine ich zum Beispiel die Influenza Pandemie H1N1 2009/10 («Schweinegrippe»), welche uns vor zehn Jahren beschäftigte. 2014 wurde im Auftrag des Bundesrates eine Pandemieübung durchgeführt, die ebenfalls viele neue Erkenntnisse brachte. Dies alles kommt uns in der aktuellen Situation zugute.

Schon während Ihrer Zeit als Kantonsarzt machten Sie nie ein Geheimnis daraus, dass Sie die Evangelische Täufergemeinde besuchen und an Gott glauben. Inwiefern sehen Sie den Glauben als Hilfe in solchen Situationen?
In erster Linie ist einmal in solchen Situationen Professionalität gefragt. Der Glaube kann eine grosse Hilfe sein, besonders für Menschen, die selbst von der Krankheit betroffen sind oder im beruflichen Umfeld gewissen Risiken ausgesetzt sind. Für alle Glaubenden ist in dieser Situation gerade das Gebet und die Gewissheit, dass Gott über allem steht, eine Quelle der Kraft. Nicht verschwiegen sei auch, dass es für uns Glaubende – einschliesslich erfahrener und kompetenter Theologinnen und Theologen – in Bezug auf menschliches Leid, Not, Krankheit, usw. ganz schwierige und oft nicht lösbare Fragen gibt.

In den Sozialen Medien sieht man verschiedene Strömungen bei den Christen: Einige demonstrieren ihren unerschütterlichen Glauben. Sie betonen, Gott sei stärker und dass ihnen das Virus nichts anhaben könne. Was würden Sie diesen Menschen sagen?
In der Tat kommen in dieser Situation auch in der christlichen Welt verschiedene Grundhaltungen zum Ausdruck. Wenn etwa Psalm Kapitel 91, Vers 10 – «Es wird dir kein Übel begegnen und keine Plage sich deinem Hause nahen» – dahingehend interpretiert wird, dass recht stehende Christen und Christinnen quasi immun seien gegen Krankheit und so auch gegen den Coronavirus, kann ich dies medizinisch und theologisch nicht nachvollziehen. Ich halte es für mutwillig und fahrlässig, wenn christliche Gruppen oder Gemeinschaften sich in der aktuellen Situation nicht an behördliche Auflagen und Vorschriften halten. Wir alle, ob Christ und Christin oder nicht, haben eine Verantwortung, uns an die Behördenvorgaben zu halten, um eine Ausbreitung der Krankheit möglichst zu verhindern. Es geht jetzt um den Schutz der krankheitsanfälligen Menschen!

Am anderen Flügel sind die gläubigen Menschen, die sich mehr auf der rationalen Schiene bewegen und dafür plädieren, die Vorgaben des Bundesamts für Gesundheit einzuhalten und z.B. lieber auf das Abendmahl zu verzichten. Was halten Sie davon?
Das ist sicher eine Haltung, der ich mich anschliessen würde. Ich plädiere ganz stark dafür, dass wir – unabhängig von unserer Weltanschauung – die Vorgaben des Bundesamts für Gesundheit und der kantonalen Fachstellen einhalten. Diese Haltung schliesst das in der vorangehenden Frage angesprochene Vertrauen keineswegs aus.

Solche Krisen verschieben ja die ganze Wahrnehmung der Menschen. Der Psychoanalytiker Markus Fäh sagte zum Beispiel in der SonntagsZeitung, Themen wie Krankheit und Tod würden plötzlich nicht mehr verdrängt werden. Beobachten Sie dies auch in den Gesprächen mit den Menschen – gerade auch mit Seniorinnen und Senioren?
Es geht auch für meine Wahrnehmung in der von Herrn Fäh genannten Richtung. Seniorinnen und Senioren, zu denen ich ja nun selbst auch gehöre, sind naturgemäss in ihrem Umfeld und auch selbst mit Krankheit und Tod konfrontiert. Nun steht man als Teil einer Risikogruppe zusätzlich im Fokus. Als Christ denke ich da sofort an das Bibelwort aus Psalm Kapitel 90, Vers 12: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» Das Wort fordert uns auf, uns mit dem Tod zu beschäftigen, dies aber nicht in einem destruktiven Sinn, sondern damit wir Einsicht und Weisheit gewinnen und uns für die wirklich wichtigen Dinge im Leben einsetzen.

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Datum: 12.03.2020
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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