Von lebensverändernden Kleinigkeiten
Mit Wenigem so viel Gutes bewirken
Der Blick ist glasig und durchbohrend, ohne dass man ein Ziel erkennen könnte. Schweigend sitzt Ralf* auf der Terrasse im baseCamp und starrt ins Nirgendwo. Mit anderen zu sprechen scheint nicht zu den Hobbys unseres neuen Mitbewohners im Lebenshaus zu gehören. In einer Wohngemeinschaft bietet das Lebenshaus vier Menschen in Notsituationen Wohnraum. Was wir über Ralf wissen, lässt sich in wenigen Sätzen ausdrücken: Ralf hat die Lebensmitte vermutlich deutlich hinter sich. Nach einem Alkohol-Entzug ist er nun seit mehreren Jahren «trocken». Das hat ihn auch einsam gemacht, denn der frühere Bekanntenkreis zeichnete sich dadurch aus, sich abends in der Dorfkneipe zu treffen. Dieser Ort ist, das weiss Ralf, in seiner Situation tabu. Er lebte gemeinsam mit seiner Mutter in einem Haus, bis sie vor mehreren Jahren starb. Sie war seine einzige Bezugsperson. Seit ihrem Tod hat Ralf ein zurückgezogenes Leben geführt. Seine Vereinsamung mündete in einer psychischen Erkrankung.
Ralf lebt, arbeitet und feiert mit uns zusammen im baseCamp. Im Lauf der Zeit taut er etwas auf, redet und lächelt sogar manchmal. Als wir seinen Geburtstag feiern – in unseren Augen recht unspektakulär mit Kaffee und Kuchen – hat er Tränen in den Augen und lässt uns wissen, dass er sich nicht erinnern kann, wann er zum letzten Mal einen so schönen Geburtstag gefeiert hat. Wir sind davon berührt und gleichzeitig betroffen: Mit so wenig Anstrengung kann man einem erwachsenen Mann so viel Gutes tun, dass seine Fassade vor Rührung zusammenbricht! Wie viele dieser «einfachen» Gelegenheiten haben wir verpasst, weil wir scheinbar keine Zeit haben?
Als Ralf nach der regulären Wohnzeit von zwölf Monaten aus dem Lebenshaus in eine eigene Wohnung zieht, ist er ein Anderer. Er kann herzhaft lachen. An guten Tagen zieht er uns alle durch den Kakao und bricht in Lachsalven aus. Da er auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen hat, hat er einen Minijob im baseCamp bekommen und ist mit seinen Aufgaben stetig gewachsen. Mit jedem Stück Verantwortung, das er übernimmt, geht er ein klein wenig aufrechter. Inzwischen gehört Ralf zum «Inventar» und leitet andere in der Werkstatt an. Unsere «jungen» Mitbewohner orientieren sich an ihm, er spricht ihre Sprache. Auch in der Evangelischen Stadtmission Prenzlau, die auf dem Gelände steht und mit dem baseCamp eng verbunden ist, hat er einen Platz gefunden. Eines Tages verkündet er im Gottesdienst von vorne: «Die Stadtmission ist mein Zuhause.»
«Hier ist es anders. Hier habe ich echte Freunde.»
Tim* ist einer unserer ehemaligen «ambulanten» Schützlinge in der Holzwerkstatt. Er wurde über eine Beschäftigungs-«Massnahme» ins baseCamp vermittelt. Seine staatlich bestellten Betreuer (davon kann es für jede Lebenslage einen geben) lassen durchblicken, dass er bisher nirgends lange geblieben ist. Entweder ging er von selbst oder seine Gewaltbereitschaft führte dazu, dass er «gegangen wurde». Unser Werkstatt-Anleiter lässt sich dadurch nicht einschüchtern. Tim wird behandelt wie alle anderen auch. Mit Achtung, Respekt, Freundlichkeit und der Erwartung, dass jeder etwas kann, wenn er denn will.
Tim entpuppt sich als hoch motivierte und absolut zuverlässige Werkstatt-Kraft. Über seine Probleme wegen seines Aggressionspotentials und seiner Vorstrafen wegen Körperverletzung spricht er offen – ebenso wie über Kindheitserfahrungen, die sich keiner wünscht. Tim blüht auf, wenn er Aufgaben übertragen bekommt und man ihm etwas zumutet. Er arbeitet an echten Produkten für echte Kunden. Mit echten Maschinen, die echt viel Geld kosten. Er macht auch mal was kaputt. Doch wider Erwarten reisst ihm dafür keiner den Kopf ab: «Das passiert halt beim Arbeiten.»
Tim gehört zur baseCamp-Gemeinschaft dazu. Beim gemeinsamen Mittagessen begrüsst ihn jeder freundlich. Keiner hat Angst vor ihm. Warum auch? Diese Erfahrung ist scheinbar neu für ihn. Eines Tages sagt Tim: »Weisst Du, hier im baseCamp ist es anders. Hier habe ich echte Freunde.» Ich weiss nicht recht, was ich antworten soll. Echte Freunde? Tim bearbeitet mit ein paar anderen Jungs Holzklötze in der Holzwerkstatt, er sitzt mit am Tisch, man plaudert, hört ihm mal zu – das ist es im Wesentlichen. Welche Erfahrungen muss Tim bisher gemacht haben, wenn so «echte Freunde» für ihn sind?
Kleine Dinge machen den Unterschied
Immer wieder stellen wir baseCamp-Mitarbeiter fest, wie bevorzugt wir sind, aus einer heilen Familie zu kommen, die für uns einen Schutzraum geboten hat. Und dass wir obendrein noch gute Freunde und Vorbilder haben. Gleichzeitig verdeutlichen uns die Erfahrungen mit unseren Mitbewohnern und den Jugendlichen in der Werkstatt, dass es gerade die alltäglichen Dinge sind, die für die Menschen in unserer Umgebung einen Unterschied machen: Die zwanzig Meter Umweg, die wir gehen, um jemanden zu begrüssen, statt auf dem kürzesten Weg in der Haustür zu verschwinden. Die Tasse Kaffee, die wir bei der Geburtstagsfeier mit trinken. Die fünf Minuten, in denen wir einfach mal den Mund halten und zuhören. Ernst gemeintes Interesse, das sich in einer kurzen Frage äussert. Zeichen der Wertschätzung – für uns manchmal zu banal, um sie wahrzunehmen. Für Menschen, die überwiegend Zerbruch und Verletzungen erlebt haben, können diese Kleinigkeiten lebensverändernd sein.
Thomas Birke ist Vorsitzender des «baseCamp Prenzlau e.V.». Das baseCamp wird vom Chrischona-Gemeinschaftswerk Deutschland und vom Diakonissen Mutterhaus St. Chrischona unterstützt.
Datum: 03.05.2013
Autor: Thomas Birke
Quelle: Chrischona Panorama