MultiKulti im Gemeindehaus
Ich arbeite als Pastor in Leverkusen, einer Stadt mit 170'000 Einwohnern nordöstlich von Köln. Ich kenne allein hier vierzehn Gemeinden anderer Sprache und Herkunft: zwei tamilische, drei französischsprachig-afrikanische, zwei englischsprachig-afrikanische, zwei rumänische, eine russlanddeutsche, eine serbischsprachige, eine kroatische, eine eriträisch-ähtiopische, eine brasilianische.
Drei dieser Gemeinden feiern ihre Gottesdienste in unserem Gemeindehaus. Und wahrscheinlich gibt es noch etliche weitere Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in Leverkusen, die ich noch nicht kenne. Mit einigen dieser Gemeinden bin ich eng unterwegs, wir treffen uns als Leiterinnen und Leiter und arbeiten im Jugendbereich zusammen.
«Richtig» Gemeinde leben
Ich sass neulich in einer Runde von Gemeindeverantwortlichen, in der es um die Zusammenarbeit mit unseren internationalen Geschwistern ging. Wir waren unter uns – als Deutsche ohne Migrationshintergrund. Und worüber wurde gesprochen? Vor allem über das, was die Arbeit mit Christen anderer Sprache und Herkunft schwierig macht: Es ging um Probleme bei der Verständigung und fremde Gerüche im Gemeindehaus, um Mülltrennung und Lautstärke, um die Arbeit mit Ämtern und Wohnungssuche. Solche Dinge eben.
Irgendwie scheint mir das eine typische deutsche Perspektive zu sein. Wir sehen Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft als Sozialprojekt, bei dem unsere Hilfe gefragt ist. Und manchmal betrachten wir sie auch ein bisschen von oben herab als Menschen, denen wir beibringen müssen, wie es «richtig» geht: Was die «richtige» Art ist, Gottesdienst zu feiern, nämlich leise und kurz; die «richtige» Art, die Dinge zu organisieren, mit einer Planung ein Jahr im Voraus; was die «richtige» Theologie ist.
Natürlich können die Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft von uns im deutschsprachigen Raum lernen. Aber wir können auch von ihnen lernen. Ich jedenfalls habe in den letzten Jahren unterwegs mit meinen Mitchristen in Leverkusen eine Menge an neuen Einsichten bekommen.
Gastfreundschaft
Was mir immer wieder auffällt, das ist das grosse Mass an Gastfreundschaft, das ich überall erlebe. Gerade mir als Pastor wird ein Respekt gezollt, der mich zwar berührt, aber mir manchmal auch schon fast peinlich ist. In der französischsprachig-afrikanischen Gemeinde bekomme ich als Gast natürlich den besten Stuhl in der ersten Reihe angeboten. Als ich zum Mikrofon trete für die Predigt, werde ich erst einmal mit einem stürmischen Applaus begrüsst.
Und natürlich werde ich immer und überall zum Essen eingeladen. Als ich bei meinem ersten Besuch in einer tamilischen Gemeinde zu einem Jahresfest eingeladen war, hatte ich wohlweislich schon drei Stunden Zeit eingeplant. Da war aber gerade einmal der Festgottesdienst zu Ende. Ich hatte einen Termin danach, den ich auch nicht spontan verschieben konnte. Also konnte ich nicht mehr mitessen. Für meine Gastgeber war das nicht auszuhalten, sie wollten mich kaum gehen lassen. Für das verpasste Essen bekam ich noch ein grosses Paket zum Mitnehmen … Und bei der nächsten Gelegenheit war ich vorbereitet und blieb zum Essen.
Liebe geht durch den Magen, so sagt man. Gottes Liebe geht auch durch den Magen. Das haben mir meine Brüder und Schwestern mit Chicken Wings und Curry, Čevapčići und Burek beigebracht.
Leidenschaft und Leidens-Bereitschaft
Mittlerweile mache ich manchmal ein paar Scherze über unsere typisch deutsche Gottesdienstkultur. Kurz muss er sein, der Gottesdienst, am besten unter einer Stunde. 75 Minuten sind für viele schon grenzwertig. Bei meinen internationalen Geschwistern in Leverkusen dauert der Gottesdienst locker doppelt so lang. Natürlich muss Jesus gefeiert werden. Gerne auch ein bisschen lauter und bei der Musik mit allem, was geht.
Natürlich bleibt man dabei auch nicht sitzen. Leidenschaft für Jesus darf doch nicht nur tief im Herzen versteckt sein, sie geht in die Hände und Beine. Unvergessen für mich ein Musikgottesdienst mit einigen Gemeinden anderer Sprache und Kultur auf dem Marktplatz in Leverkusen. Am Ende spielte die siebenköpfige Band der serbischsprachigen Gemeinde. Und dann tanzten auf einmal 40 Serben und Afrikaner zusammen im Kreis, aus Freude an Jesus und am Leben.
Oder: Ich habe letztens über die geistliche Übung des Fastens gesprochen und zu drei Fastentagen im Advent eingeladen. Fasten light war das, wo nur das Mittagessen ausfallen sollte. Aus meiner Gemeinde teilgenommen haben genau null Personen. Ich habe mal bei den Gemeinden anderer Sprache und Kultur nachgefragt, wie sie es mit dem Fasten halten. Typisch war die Auskunft des Leiters der Eriträisch-Äthiopischen Gemeinde. Er sagte in etwa Folgendes: «Ja, früher haben wir mehr gefastet. Heute nur noch einmal im Monat. Und dann noch mal zwei Wochen, entweder im Advent oder im Januar, wo wir für ein gutes neues Jahr fasten und beten.» Er sagte das fast entschuldigend. Und ich denke nur: Einmal im Monat plus zwei Wochen? Das kenne ich von keiner einzigen deutschen Gemeinde!
Oder: Da kommen wir bei einem internationalen Leitertreffen über unsere Teenager und Jugendleiter ins Gespräch. Ein Jugendleiter erzählt davon, wie sie in seiner Gemeinde Jugendliche mit einbinden. Im Kern sagt er, dass die Jugendlichen ihn und die Gemeindeleitung erst überzeugen müssen, dass sie im Gottesdienst etwas beitragen dürfen – in der Band, beim Gebet, bei der Lesung aus der Bibel. Sie müssen erst zeigen, dass sie es ernst meinen mit Jesus. Dazu gehören Pünktlichkeit und Verbindlichkeit; junge Leute, die ständig zu spät kommen oder nur unregelmässig da sind, dürfen im Gottesdienst nicht ans Mikrofon.
Das ist sehr weit von meiner Gemeinderealität entfernt. Ich bin schon froh, wenn überhaupt Teenager in den Gottesdienst kommen. Und wenn sie dann auch noch etwas beitragen wollen – super! Nehme ich mit Kusshand! Aber irgendwie spüre ich eine Resonanz in mir, die mir sagt: Eigentlich sollte es anders sein. Meine Geschwister in den Gemeinden anderer Sprache und Kultur erwarten ganz selbstverständlich gelebte Jüngerschaft von ihren Leuten. Jesus nachzufolgen, dazu gehört nicht nur Leidenschaft, sondern auch die Bereitschaft, mit ihm schwere Wege zu gehen und auf dem Boden zu schlafen.
Gottes Segen fliesst
Unsere deutschsprachige Mehrheitsgesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Säkularisierungsschub erlebt. Die grossen Kirchen schrumpfen beträchtlich. Als ich Ende der 1960er Jahre auf die Welt kam, gehörten noch 95 Prozent (!) der Menschen in Deutschland zu einer der beiden grossen Kirchen. Zuletzt waren es gerade noch 46 Prozent. Und auch die klassischen Freikirchen sind Teil dieses Trends, in rund 300 der 500 Gemeinden des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, zu dem ich gehöre, stagnieren oder schrumpfen die Mitgliederzahlen. In der Freien evangelischen Gemeinde Leverkusen-Wiesdorf, in der ich als Pastor arbeite, kommen zwar einzelne Menschen zum Glauben, aber wir werden trotzdem weniger. Wir sind als Gemeinde lebendig mit Jesus unterwegs, dienen wohnungslosen Menschen, führen gästesensible Gottesdienste durch, sind gut in der Stadt vernetzt.
Aber wir müssen kleine Brötchen backen. Es liegt nicht gerade Erweckung in der Luft. Ich habe in den letzten Jahren häufiger den Eindruck gehabt: Wir rackern uns ab, aber es bringt nichts. Und ich habe manchmal gedacht: Herr, wann tust du endlich wieder was? Hast du dich zurückgezogen?
Dann sehe ich jedoch, was Gott in Gemeinden anderer Sprache und Herkunft bei uns tut. Die serbischsprachige Gemeinde, die bei uns ihre Gottesdienste feiert, hat vor fünf Jahren begonnen – und zwar zu zweit per Facebook. Innerhalb von zwei Jahren war aus den beiden Christen, die den Anfang gemacht haben, eine grosse Facebook-Gemeinde geworden. 2021, mitten in Corona-Zeiten, haben sie mit Gottesdiensten vor Ort bei uns im Gemeindehaus begonnen. Mittlerweile haben sie über 100 Menschen getauft, die meisten sind in der Zeit neu zum Glauben an Jesus gekommen. Nein, Gott hat sich nicht zurückgezogen. Sein Segen fliesst nur offensichtlich gerade an anderer Stelle intensiver als in unserer deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft.
Junge Generation
In vielen der Gemeinden anderer Sprache und Kultur finde ich unfassbar viele Kinder und Jugendliche: Unser Kindergottesdienst hat acht Kinder, wenn alle da sind. Die serbischsprachige Gemeinde hat 30 Kinder jeden Sonntag.
Demnächst werden wir einen evangelistischen Jugendgottesdienst mit fünf beteiligten Gemeinden durchführen, wir sind die einzige deutschsprachige Gemeinde dabei. Und wir planen den Gottesdienst für bis zu 300 Teenager und Jugendliche. In den Gemeinden anderer Sprache und Kultur machen die jungen Leute bis 25 Jahre oft die Hälfte der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher aus.
Wenn ich auf die Zukunft der Kirchen im deutschsprachigen Raum schaue, dann gehören die Entwicklungen in den Gemeinden anderer Sprache und Kultur zu den Dingen, die mich am meisten ermutigen. Da wächst eine neue Generation von Christinnen und Christen heran, deren Eltern nach Deutschland zugewandert und die zum Teil komplett hier aufgewachsen sind. Sie werden mehr und mehr das Bild der Christenheit prägen. Was für eine grosse Chance. Das Licht Gottes bricht sich in vielen Farben, und es ist gut zu sehen: Christen gibt es in laut und leise, in hell und dunkel, in sitzend und tanzend. Und irgendwie sind sie trotz aller Unterschiede alle ein bisschen wie Jesus.
Solingen, Remigration
Ein letztes. Ich schreibe diesen Artikel kurz nach der Bundestagswahl 2025. Migration war das beherrschende Thema im Wahlkampf und in den Monaten davor. Meine Frau und ich wohnen in Solingen, wo es am 23. August 2024 die Messerattacke auf dem Stadtfest gab. Dieser Tag wird mir lange in Erinnerung bleiben: überall Polizei, die ganze Nacht Sirenen und Hubschrauber in der Luft. Grosse Verunsicherung in der Stadt, auch Wochen danach wurde überall über das Geschehene diskutiert.
Nach diesem Attentat nahm die politische Debatte um Migration stark an Fahrt auf, verständlicherweise. Aber was macht das alles eigentlich mit unseren Geschwistern? Nach der Bundestagswahl am Sonntag habe ich noch länger mit meinen serbischsprachigen Geschwistern gesprochen. Sie haben Angst. Angst vor Abschiebung. Angst, nicht mehr willkommen zu sein in Deutschland. Und überall in den Gemeinden, in denen ich gefragt habe, wurde mir bestätigt: Natürlich kennen sie Rassismus aus eigener, schmerzlicher Erfahrung.
Stephan Anpalagan, studierter Theologe und Kolumnist im Stern, selbst in Sri Lanka geboren und in Deutschland aufgewachsen, schreibt: «Ich liebe dieses Land. Ich empfinde Demut für seine Geschichte und Trauer für seine Opfer. Ich bin dankbar, dass ich in einem friedlichen und sicheren Deutschland in der Mitte eines vereinten Europas leben darf. Nicht alles läuft gut, vieles muss besser werden. […] Der Schmerz, den viele Menschen noch immer in diesem Land empfinden, lässt sich nicht mit einigen wenigen warmen Worten beiseite wischen. Noch immer fühlen sich viele Menschen nicht mitgemeint und haben das Gefühl, ‚Bürger zweiter Klasse‘ zu sein. [...] [D]er Kampf um die Demokratie und für eine freie Gesellschaft kann nur dann leidenschaftlich und engagiert geführt werden, wenn man sich mit diesem Land identifiziert, seine Werte teilt und seine Menschen liebt.» (stern online, 23.2.2025)
Ich spüre bei den Geschwistern in den Gemeinden anderer Sprache und Kultur, dass sie Deutschland lieben. Aber nicht immer liebt dieses Land sie zurück. Wenigstens bei uns, die wir zu Jesus gehören, sollte das anders sein. «Solange wir also noch Zeit haben, wollen wir allen Menschen Gutes tun, besonders denen, die mit uns durch den Glauben verbunden sind», schreibt Paulus in Galater 6,10. Und das Gute könnte einfach damit anfangen, hinzugehen und sie kennenzulernen und ihnen zu zeigen und zu sagen: «Schön, dass ihr hier seid! Wir brauchen euch!»
Und noch etwas. Ich weiss nicht, was die Zukunft in Deutschland bringen wird. Ein Fünftel der Wählerinnen und Wähler haben am 23. Februar 2025 eine vom Verfassungsschutz als «in Teilen rechtsextremer Verdachtsfall» eingestufte Partei gewählt, die mit «Remigration» das Unwort des Jahres 2023 zentral in ihr Wahlprogramm aufgenommen hat.
Ich frage mich: Wie wird die übernächste Bundesregierung wohl aussehen? Es könnten Zeiten kommen, in denen wir uns entscheiden müssen, wie wir uns zur «Remigration» unserer Geschwister anderer Muttersprache, Herkunft, Kultur und Hautfarbe stellen werden. Und die einzig relevante Frage für uns Christen dazu ist: What would Jesus do? Was würde Jesus tun?
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Datum: 10.06.2025
Autor:
Ingo Scharwächter
Quelle:
Magazin Aufatmen 02/2025, SCM Bundes-Verlag