So kann die Kirche handeln
Wenn wir an italienische Familien denken, haben viele von uns ein lebendiges Bild vor Augen: Eltern, Grosseltern, Tanten, Onkel, Cousins und Kinder, die sich um einen reich gedeckten Tisch versammeln und gemeinsam eine üppige Mahlzeit geniessen. Doch aktuelle Daten zeichnen ein ganz anderes Bild.
Laut dem neuesten demografischen Bericht des italienischen Statistikamts ISTAT aus dem Jahr 2024 ist der am häufigsten vorkommende Haushaltstyp in Italien mittlerweile der Ein-Personen-Haushalt.
Alleinlebende junge Studierende, Singles und ältere Menschen machen inzwischen 36,2 Prozent aller Haushaltsformen im Land aus. Paare ohne Kinder stellen weitere 20 Prozent, während Alleinerziehende 10 Prozent der Familienkonstellationen ausmachen. Die klassische Familie – Eltern mit ihren Kindern – bildet nur noch 29 Prozent der Haushalte.
Tiefgreifender, gesellschaftlicher Wandel
Der Aufstieg der Ein-Personen-Haushalte steht sinnbildlich für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Italiener das Familienmodell grundsätzlich ablehnen. Vielmehr spiegeln sich darin tiefgreifende demografische und soziale Veränderungen wider – etwa spätere Eheschliessungen, wirtschaftlicher Druck und eine höhere berufliche Mobilität.
Gleichzeitig verzeichnet Italien weiterhin eine rückläufige Geburtenrate von mittlerweile noch 1,24. Die Bevölkerung altert rapide, und sowohl Zu- als auch Abwanderung verändern das gesellschaftliche Gefüge.
Epidemische Einsamkeit
Die italienische Theologin und Journalistin Chiara Lamberti beobachtet: «Unsere Städte und Dörfer sind zunehmend von Menschen geprägt, die alleine leben – teils bewusst, um berufliche oder akademische Ziele zu verfolgen, teils unfreiwillig als Folge eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs. Über Jahrzehnte hinweg wurde der Wert familiärer Bindungen vielfach unterschätzt oder gar ignoriert.»
Soziologen sprechen inzwischen von Einsamkeit als neuem «endemischen» Phänomen unserer Zeit, erklärt Chiara Lamberti. «Dabei geht es nicht nur um physische Isolation, sondern auch um emotionale Entfremdung in einer zunehmend beschleunigten, fragmentierten Welt. Parallel dazu steigen psychische Belastungen rapide – Angstzustände, Depressionen und Burnout gehören mittlerweile zum Alltag.»
Absichtlich im Gefängnis
Italien ist mit diesem Problem nicht allein. «In Japan, wo ähnliche demografische Entwicklungen zu beobachten sind, entstehen bereits ungewöhnliche Lösungen gegen Einsamkeit. Neben Mietfreunden und Scheinpartnern berichten Medien sogar von älteren Frauen, die absichtlich kleinere Straftaten begehen, um im Gefängnis Gesellschaft und Fürsorge zu finden.»
Während Italiens Einwohner bislang nicht auf solche extremen Massnahmen zurückgreift, verdeutlichen diese Beispiele doch eindrucksvoll, wohin eine Gesellschaft steuern kann, die das Entstehen junger Familien nicht aktiv fördert oder wertschätzt.
Die Rolle der Kirche
«Diese Entwicklungen stellen auch für die Kirchen in Italien eine grosse Herausforderung dar. Vor allem aber sind sie ein Aufruf, eine gegenkulturelle Vision von Familie zu vertreten – gegründet auf dem biblischen Verständnis ihrer Bedeutung als von Gott eingesetzte Institution und nicht als Hindernis persönlicher Entfaltung.»
Alleinlebende willkommen zu heissen, bietet die Chance, zu zeigen: In der Kirche kann man zwar alleinstehend, aber nicht allein sein. In einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft kann sie zu einem Ort der Geborgenheit und Stabilität werden.
«Nie wirklich allein»
Zugleich müsse sich die Kirche auf eine «demografische Verschiebung von innen» vorbereiten, erklärt Chiara Lamberti: «Immer mehr alleinstehende Menschen – aus unterschiedlichen Altersgruppen – werden künftig Teil der kirchlichen Gemeinschaft sein.»
Alleinlebende willkommen zu heissen, sei daher nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Chance. «Die Kirche sollte eine Kultur der gegenseitigen Fürsorge und Verbundenheit fördern – und damit zeigen: Auch wer ohne Partner lebt, ist in der Gemeinschaft der Gläubigen nie wirklich allein.»
Chance für ganz Westeuropa
Dieser demografische Wandel trifft ganz Westeuropa. Er kann von christlichen Gemeinden auch als Chance wahrgenommen werden. Gerne nennen wir an dieser Stelle fünf mögliche Punkte:
1. Neue Gemeinschaftsformen schaffen
In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft wächst die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft. Christliche Gemeinden können Orte werden, an denen Menschen – unabhängig von Familienstand oder Alter – Zugehörigkeit, Nähe und Freundschaft erleben. Sie können das bieten, was viele Menschen vermissen: stabile, tragfähige Beziehungen.
2. Relevante Antworten auf Einsamkeit geben
Einsamkeit ist zu einem breiten gesellschaftlichen Problem geworden. Gemeinden haben hier die Möglichkeit, mit ihrer gelebten Nächstenliebe konkrete Hilfe anzubieten – durch Besuchsdienste, Gemeinschaftsabende, Mentoringprogramme oder Gebetsgruppen. Damit geben sie ein kraftvolles Zeugnis der christlichen Hoffnung in einer fragmentierten Welt.
3. Diakonische Arbeit mit neuer Zielgruppe
Die soziale und emotionale Not von Alleinlebenden, älteren Menschen oder Alleinerziehenden eröffnet Gemeinden neue diakonische Wirkungsfelder. Praktische Hilfsangebote – etwa Nachbarschaftshilfe, Begleitung im Alltag oder geistliche Unterstützung – können gezielt auf diese Gruppen zugeschnitten werden.
4. Evangelium in neuen Lebenskontexten verkünden
Wenn traditionelle Lebensformen wegbrechen, stellt sich für viele die Sinnfrage neu. Gemeinden können diesen Moment nutzen, um über zentrale Glaubensinhalte wie Berufung, Hoffnung, Gemeinschaft und Barmherzigkeit zu sprechen. Das Evangelium wird dabei nicht als nostalgische Rückschau, sondern als zukunftsweisende Perspektive erfahrbar.
5. Vielfalt als Stärke der Gemeinde erleben
Eine demografisch vielfältige Gemeinde – bestehend aus Singles, Senioren, Alleinerziehenden, Patchwork-Familien und klassischen Familien – spiegelt das biblische Bild des Leibes Christi wider: viele Glieder, ein Körper. Diese Vielfalt kann zur Stärke werden, wenn gegenseitige Wertschätzung und Ergänzung gelebt werden.
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Datum: 27.05.2025
Autor:
Daniel Gerber
Quelle:
Livenet / CNE.news