50 Jahre nach Jom Kippur

Neue Zeitrechnung im Nahen Osten

Adi Furrer und Moshe Gabay
Mit einer schrecklichen Terrorattacke hat die Hamas Israel erschüttert. Frieden und Menschlichkeit sind an einem Sabbat zerstört worden. Resultat: 1'200 Tote, 3'000 Verletzte, 150 Geiseln. Moshe Gabay und Adi Furrer erzählen, wie sie das erleben.

«Am Samstagmorgen um 6:30 Uhr machte ich mich auf den Weg zum Flughafen, um Gäste abzuholen», erzählt Moshe Gabay aus Israel. «Damals hörten wir die ersten Nachrichten.» Später Genaueres zu erfahren, sei ein Schock gewesen, sagt der 40-jährige Schweizer, der vor 21 Jahren nach Israel ausgewandert ist und als Reiseleiter arbeitet. Bisher hatte er darauf vertraut, dass die Armee für Schutz und Sicherheit sorgt. «Jetzt ist alles anders.»

«Jetzt ist es soweit»

Moshe lebt mit seiner Familie im Kibbuz Afik im Norden, an der libanesischen Grenze, sieben Kilometer Luftlinie von Syrien entfernt. «Gestern Nacht wurden wir aus Syrien von Mörsergranten beschossen, alle mussten in den Bunker.» Seine Kinder seien auf so eine Situation vorbereitet, im Moment fänden sie es cool, sich dort mit Nachbarn und deren Hunden zu treffen. Ihr Vater sagt: «Wir trainieren ständig, wie wir vorgehen würden, wenn jemand in unseren Kibbuz eindringt.»

Seinem Dorf wurde eine Eliteeinheit zugeteilt. Zusammen mit den Soldaten, die jetzt bei ihnen leben, seien sie nun zuständig für den Schutz der Bevölkerung. «Jetzt laufen wir mit der Schusswaffe herum, auch wenn Kinder da sind. Wir haben gewusst, dass sowas mal passieren könnte – jetzt ist es soweit.»

Kein Mittelweg

Moshe und sein Bruder Jaron sind als Söhne einer Schweizerin und eines Israeli in der Schweiz aufgewachsen und dann nach Israel ausgewandert. Der Jüngere wurde eingezogen und im Krisengebiet Be'er Scheva stationiert. «Jarons Frau ist mit den Kindern nun allein», erklärt Moshe. Er selbst kann bei seiner Familie bleiben, als über 40-Jähriger ist er im Reservedienst. Er steht seinem einzigen Bruder sehr nah, sorgt sich um ihn. «Wenn die Soldaten in Be'er Scheva abgeschlachtet werden, wo Jaron stationiert ist, schläft man nicht mehr gut…», gesteht Moshe. «Solange sich die Hisbolla nicht einschaltet, geht es», glaubt er. « Aber dann wären wir alle betroffen. Entweder wir gewinnen oder wir verlieren – dann werden wir alle abgeschlachtet. Es gibt keinen Mittelweg.»

«Diese Zeit schweisst zusammen»

Seine Bedenken beziehen sich weniger auf seine Region. «Ich bin ein Optimist. Wenn im Gazastreifen etwas los war, sagten wir immer: Warten wir mal ab, das wird wieder!» Heute sei er nicht mehr ganz so optimistisch. Seit dem Holocaust sei Israel nie so etwas Schreckliches widerfahren. «Niemand auf der Welt hat wohl schon so etwas erlebt – nicht mal die ISIS köpften Babys.»

Die Nazis hätten eine systematische Maschinerie zur Massenvernichtung eingerichtet. «Was wir am Samstag erlebt haben, ist einmalig in der Weltgeschichte», so Moshe. «So eine Brutalität an einem Tag gab es noch nie.» Dennoch sieht er eine Perspektive: «Diese Zeit schweisst uns zusammen und führt uns zu Gott. Vor ein paar Wochen hätten wir uns fast gegenseitig zerfressen wegen einem blöden Gesetz – jetzt hocken wir zusammen im Bunker, helfen einander, versorgen die anderen mit Essen.»

Nahostkenner

Adi Furrer ist Theologe und Nahost-Kenner. Er ist mit den Mid East-Tours oft in Israel unterwegs. «An 10 bis 15 Orten überwand die Hamas den sensiblen Grenzzaun und drang in Kibbuze ein. Das gab es bisher noch nie, das ist eine völlig neue Dimension mit diesen Kämpfen und Geiselnahmen», sagt Adi. Er sei sehr gespannt, wie sich das in den nächsten Jahren entwickle. «Der Gaza-Streifen ist so gross wie die Stadt Madrid», erklärt Furrer. Das sei ein kleines Gebiet, das sich nicht für eine Bodenoffensive mit Panzern eigne. «Es läuft wohl auf einen Häuserkampf hinaus. Die Geiseln könnten als Schutzschilde eingesetzt werden. Wenn sich die Hisbolla und der Iran einmischen, dann braucht es ein Zündholz und es geht im Norden auch los.»

Es hänge viel davon ab, was der Iran unternehme, meint Furrer. Die Amerikaner hätten Kriegsschiffe ins Mittelmeer verlagert, Grossbritannien werde auch kommen. «Das deutet auf eine grosse Offensive hin, die schnell einen Flächenbrand auslösen kann.» Die Forderungen der arabischen Staaten werden zunehmen, vermutet er. «Die Hamas hat gemeldet, sie sei bereit zu kämpfen, Kinder zu töten, und auch zu sterben.»

Geistlicher und kultureller Kampf

Der Theologe führt aus: «Es geht um eine geistliche und eine kulturelle Ebene. Viele Spezialisten verstehen den Islam und die arabische Kultur nicht.» Eine Ehrverletzung könne für einen Muslim nicht durch ein Friedensabkommen wieder gut gemacht werden. Ehrverletzung werde nur durch die Demütigung des Gegenübers beendet. Dies sei eine ganz andere Denkweise als die jüdisch-christliche. «Die Tee- und Kaffeekultur hat etwas Herzliches – wenn man aber genauer hinschaut, entsteht Identität im arabischen Denken oft erst im Zusammenschluss gegen einen gemeinsamen Feind. Die Clans sind alle in ihren Dörfern zerstritten.» Doch ein Slogan wie «Tod den Israelis» bringe sogar Sunniten und Schiiten zusammen. «Man kann nicht mit westlichen Ideen auf diese Menschen zugehen, ohne zu verstehen, wie sie ticken», warnt er.

Gemeinsam gegen den Feind

«Das Prinzip der Vergebung existiert in der radikalen islamischen Welt nicht», bestätigt Moshe. Die Ehrenkultur führe dazu, dass ein Vater seine eigene Tochter umbringe. «Er kann ihr nicht vergeben, wenn sie seine Ehre verletzt hat.» Wie geht man mit einer solchen Gesellschaft um? «Die Bibel ist oft klarer als wir. Sie sagt, wie man mit Völkern verfahren soll, die einem den Tod wünschen.» Israel habe Krieg geführt mit der Hamas. Aber das Volk im Gazastreifen sei mit dem Lebensnotwendigen beliefert worden: mit Essen, Treibstoff, Strom. Lange hätten sie gezielt nur einzelne Häuser angegriffen. «Sie wurden von allen Bewohnern verlassen und wir hatten so keinen grossen Erfolg.»

Jetzt werde anders vorgegangen. Es werde nichts mehr geliefert, auch nicht aus Ägypten. «Wir wollen nicht alle umbringen, aber wir bombardieren, wenn wir Terroristen erkennen. Und jetzt stellen wir alle Lieferungen ein.» Das betreffe auch Spitäler. Er sei gespannt, was die Hamas dann mache, sagt Moshe. «Die werden nicht aufgeben deswegen, denen ist ihr Volk egal.» Das sei wahnsinnig traurig, ein Dilemma. «Vielleicht finden wir eine Lösung, können die Geiseln evakuieren. Aber das Problem ist dann nicht gelöst, die Hisbolla und der Iran sind immer noch da.»

Ausweitung des Krieges?

Der Verteidigungsminister liess verlauten, der Gegenschlag würde in aller Härte erfolgen. Die Palästinenser würden einen hohen Preis bezahlen für ihre Attacke, die Folgen mehrere Generationen betreffen. Premier Nethanyahu wolle einen neuen Nahen Osten kreieren. Zuversichtlich sagt Moshe: «Wir werden eine Friedensachse haben mit Saudi-Arabien. Dann werden wir eine gute Zukunft haben.» Leider sei das nicht möglich, ohne die Verursacher einer Ideologie anzugreifen, deren Brutalität man nicht erfassen könne. «Ohne Gewalt ist der Frieden nicht zu erreichen.» 

Nicht im gleichen Boot

Als Schweizer lebe er im sicheren Hafen, hält Adi Furrer fest. So könne er schlecht beurteilen, was in Israel passieren wird. Er sei vorsichtig geworden, Ideen zu präsentieren. «Unsere Sorgen, unsere Empörungskultur lassen Israelis lächeln.» Das Schlimme seien die leidenden Menschen auf beiden Seiten. Deren Schmerz empfinde er mit. «Aber wir dürfen nicht vergessen: Die Hamas nutzt Krieg, ist korrupt, unterdrückt ihr Land, sie definiert sich grundsätzlich über den Tod jedes Juden.» Sie hätte sich auf die Fahne geschrieben: «Wir löschen Israel mit Gewalt aus.» Ihre Charta könne sich jeder Interessierte runterladen. «Wie bringt man Frieden zustande mit Leuten, die sagen, wir bringen euch um? Mit solchen Leuten kann man nicht verhandeln. Es ist nicht möglich», stellt er klar. Wer mit der Palästina-Flagge herumlaufe, identifiziere sich mit den Werten der Hamas. «Israel hat ein Recht zu existieren. Alles andere ist nicht akzeptabel.»

Israel bleibt positiv

Adi Furrer bestätigt: «Die Israelis sind grundsätzlich positiv gestimmt und sagen: Wir werden gewinnen, weil wir nicht verlieren dürfen. Wir werden etwas aufbauen, wir wollen Frieden haben.» Israel schaue vorwärts – deshalb werde es kämpfen und schliesslich gewinnen. «Der Islam ist rückwärtsgerichtet, eine Opferkultur, die immer wiederholt: Wir sind die Armen. Deshalb bringen wir alle anderen um.» Er glaube daran: «Auch wenn die Verluste gross sein können – die Israeli werden gewinnen.»

Moshe gibt sein Vertrauen in Gott nicht auf. Auch den Kindern würden sie versichern: «Der Hüter Israels schlummert und schläft nicht.» Dennoch gesteht er: «Ich ging immer davon aus, dass wir den besten Sicherheits- und Geheimdienst haben. Diese Überzeugung ist nun zerbrochen.» Trotz allem glaube er, dass Israel einer friedlichen Zukunft entgegengehe. Vielleicht wolle Gott ihnen damit sagen: «Ich schaue zu euch und bringe alles zum Guten.» Vorher werde sein Volk jedoch noch einiges durchmachen müssen. «Und da brauchen wir noch viel mehr Vertrauen als bisher.»

Mehr als ein Judenstaat

«Wir stehen hinter Israel, aber auch hinter den arabischen Christen in der Westbank, hinter den Kindern, hinter allen, die leiden», betont Adi und erzählt von Ali, dem Muslim und Beduinen, der als Chauffeur mit ihm zusammenarbeitet. «Seine Aufträge sind weg, sein Geschäft am Boden. Dennoch ist er sofort bereit, Menschen, die ausreisen wollen, an die Grenze zu fahren.» Moshe ergänzt, 20 Prozent der Israelis seien Muslime, und auch sie dienten in der Armee. «Eine Eliteeinheit von Beduinen der israelischen Armee ist voll motiviert nach Be'er Scheva gereist, um dort dem gemeinsamen Land zu dienen.» Israel sei mehr als ein Judenstaat, das Land verdiene Solidarität. Es gehe um Freiheit und Sicherheit für alle seine Bewohner. «Es ist das einzige demokratische Land im Nahen Osten.»

Sehen Sie sich den Livenet-Talk mit Adi Furrer und Moshe Gabay an:
 

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Datum: 14.10.2023
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Livenet

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