Das traditionelle Verständnis von Berufung in die Mission erscheint mehr das geistige Kind des Idealismus zu sein und damit zeitbedingt, denn biblisch begründet. In gleicher Weise wie vor 200 Jahren Entdecker, Abenteurer und Geschäftsleute aufbrachen - oft gegen den Rat ihrer Zeitgenossen, um Neues zu entdecken und die Welt zu gewinnen. So haben sich damals auch die ersten neuzeitlichen Missionare auf den Weg gemacht. In der tiefen Überzeugung, dass Gott sie berufen hat und Gottes Wort dies lehrt. Es war die Gründerzeit von sozialen Vereinigungen und Wirtschaftsunternehmen, des Individualismus und der Aufklärung bis hin zur Romantik, in der die Weltmissionsbewegung vor allem gewachsen ist. Die Missionare haben sich damals der Leitbegriffe und Organisationsformen ihrer Zeit bedient. Und Gott hat diese zeitbedingten Begriffe gebraucht, um Grosses und Neues in unserer Welt zu wirken. Das Beispiel und der Erfolg dieser Missionspioniere fanden ihren Niederschlag in den Missionsbiografien und wurden dadurch zum Leitbild für Berufung und Arbeitsformen der Mission, ohne dass die geschichtliche Bedingtheit immer hinreichend beachtet wurde. Dieses individualistische, punktuelle und idealistische Verständnis von Berufung lässt sich nur schwerlich biblisch begründen. Ja, es erscheint jungen Mitarbeitern heute eher den Weg in die Mission zu verbauen, da sie diese persönlichen Erfahrungen nicht teilen, noch sich diesem Anspruch gewachsen sehen. Das biblische Verständnis von Berufung im Besonderen basiert vielmehr auf Gottes Reden und Wirken durch seine christliche Gemeinschaft. Die Gewissheit wächst über eine längere Zeit hinweg. Der auferstandene Jesus Christus hat seiner Gemeinde den Auftrag gegeben, das Evangelium in alle Welt zu tragen. Die ganze Gemeinde und jeder einzelne Christ soll daran beteiligt sein – einige sogar als hauptamtliche Missionare, d. h. Gesandte in eine andere Kultur. Berufung in den Dienst ist zuweilen schon durch übernatürliche Ereignisse geschehen, wie den brennenden Dornbusch bei Mose (2. Mose 3), die Engelserscheinung bei Gideon (Ri. 6), die Vision des Jesaja (Jes. 6) oder den Lichtstrahl vom Himmel bei Saulus (Apg. 9). Diese aussergewöhnlichen Erfahrungen haben unser Verständnis von Berufung geprägt. In den meisten Fällen jedoch geschehen Berufung und Führung ganz unscheinbar, leise, schrittweise – dies ist viel mehr die Regel im Alten und Neuen Testament. Ein gutes Beispiel dafür ist Silas, jener grosse Missionar im Neuen Testament und engster Mitarbeiter des Apostels Paulus. In Apostelgeschichte 15,Vers 40 heisst es zu seiner Berufung lediglich: “Paulus aber wählte Silas und zog fort, von den Brüdern der Gnade Gottes anbefohlen.” Hier wird nicht erkennbar, dass Gott mit ihm direkt gesprochen hat – Silas erscheint eher unbeteiligt und passiv. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Apostel Paulus, der sich in einer ernsten personellen Notlage befindet. Nach der Trennung von seinem Kollegen Barnabas (Apg. 15,39) steht er alleine da und braucht dringend Mitarbeiter. Da entsinnt er sich des Silas aus Jerusalem, der nach einem Kurzeinsatz in Antiochia unlängst wieder abgereist ist. Paulus hat ihn persönlich kennen gelernt und gut mit ihm zusammengearbeitet. Inzwischen ist er aber wieder in seiner Heimatstadt Jerusalem, 500 Kilometer südlich, eine Weltreise in der damaligen Zeit. Paulus wählt diesen Mann aus und nicht einen der Mitarbeiter in Antiochia. Er scheut keine Mühe und Umstände, um Silas als Mitarbeiter an seiner Seite zu haben. Vordergründig ist es eine menschliche Entscheidung von Paulus, geboren aus dem Mitarbeiterengpass, den guten persönlichen Erfahrungen bei einem Kurzeinsatz und strategischen Überlegungen. Dahinter aber steht Gottes Führung und Silas kann dies als Gottes Berufung in seinem Leben annehmen. An diesem Beispiel werden drei Grundprinzipien deutlich: Gott gebraucht menschliche Überlegungen, nüchterne Zahlen und Fakten. Bei William Carey, dem Pionier der modernen Missionsbewegung vor 200 Jahren, waren es demografische Daten über verschiedene Länder, die ihm die Augen für die noch unerreichten Völker öffneten. Bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf war es eine persönliche Begegnung mit dem schwarzen, ehemaligen Sklaven Anton, über den er am Rande der Krönungsfeier des dänischen Königs in Kopenhagen vom Elend der Sklaven in der Karibik erfahren hatte – und ein Jahr später waren bereits die ersten Missionare von Herrnhut zu diesen Inseln entsandt. Gott gebraucht Vernunft (Apg. 14,6), Logik (Apg. 16,13), strategische Überlegungen (Apg. 13,6), seelsorgerliches Mitgefühl (Apg. 15,37), Umstände (Apg. 14,19) und selbst Verfolgung (Apg. 9,24), um zu führen und Gewissheit zu schenken. Zudem spricht Gott oft nicht zur berufenen Person selbst, sondern durch andere Menschen. Beim Apostel Paulus war es Ananias in Damaskus (Apg. 9,15) und nicht Jesus selbst bei der eindrucksvollen Erscheinung vor Damaskus, der ihm die Berufung zum Apostel der Nationen zuspricht. Bei Timotheus war es Paulus (Apg. 16,3) und bei Johannes Markus war es Barnabas (Apg. 12,25). Immer wieder gebraucht Gott Menschen, um klare Gewissheit zu schenken (Apg. 9,25 + 27 + 30; 11,25; 15,40). So wird die persönliche Überzeugung (subjektive Berufung) ergänzt durch Faktoren und Umstände, die ausserhalb der eigenen Person liegen (objektive Berufung). Dies gibt Gewissheit, die auch durch Krisen hindurchträgt. Berufung ist oft ein langer Prozess und nicht ein punktuelles Ereignis. Was bei Silas als eine spontane Entscheidung des Paulus erscheint, hatte tatsächlich eine lange Vorgeschichte: Silas wird anschliessend von der Gemeinde und den Aposteln als Vertrauensperson ausgewählt und zusammen mit Paulus und Barnabas nach Antiochia gesandt. Er wird als angesehene Person bezeichnet, d. h. eine Führernatur mit Autorität, eine Person, die klare Entscheidungen zu treffen vermag, deren Wort Gewicht hat. Er hat sein Leben für Jesus eingesetzt (V. 26). Dies verdeutlicht seine Hingabe, seinen ganzen Einsatz, Dienstbereitschaft, den Mut, Neues zu wagen, Risikobereitschaft und Tapferkeit, aber auch seine Kompromissfähigkeit, Weisheit und Liebe zu Jesus. Zusammen mit einem weiteren Mitarbeiter sollte Silas der Gemeinde in Antiochia die Apostelbeschlüsse mündlich erklären, d. h. öffentlich bekannt machen, proklamieren. Dies weist auf seine Redegabe und Kommunikationsfähigkeit hin. Silas wird zudem als Prophet (V. 32) bezeichnet, d. h. als eine Person, die öffentlich verkündigt, Gottes Wort auslegt in die Lebenssituation der Zuhörer und von Gottes Geist geleitet wird. Er ermahnte die Brüder (V. 32), d. h. er war fähig, andere zu trösten, zu ermutigen, aufzurichten, seelsorgerlichen Zuspruch zu geben. Er ermahnte mit vielen Worten (V. 32). Dies unterstreicht seine Beharrlichkeit und Ausdauer, den langen Atem. Silas stärkte die Gemeinde (V. 32), d. h. er festigte, baute auf, stützte die Schwachen, gründete die noch Jungen im Glauben. Er stärkte die Angefochtenen, ermutigte die Schwachen und arbeitete zielstrebig. Dies alles geschah im multikulturellen Kontext der Gemeinde in Antiochia, einer der grössten Städte im Römischen Reich, die stark von der griechischen Kultur geprägt war. All diese Qualitäten von Silas sind nicht von heute auf morgen entstanden, sondern über Jahre des Dienstes langsam gewachsen. Die Mitarbeit in der Gemeinde in Jerusalem war keine verlorene Zeit. Sie war vielmehr Gottes Schule und Trainingsfeld, um geistliche Gaben zu entfalten, Erfahrungen zu sammeln, im Glauben zu wachsen und sich im Missionsdienst zu bewähren: Gott bereitet seine Mitarbeiter zu! Dies ist nun die Person, die Paulus in diesem Augenblick wählt. Insofern lautet die Grundfrage nicht: “Wie finde ich meinen Platz in der Weltmission?”, sondern vielmehr: “Wie werde ich die Person, die Gott gebrauchen kann?” Silas wurde in der Gemeinde in Jerusalem gefördert; die Gemeinde wählte ihn aus und sandte ihn zum Kurzeinsatz nach Antiochia. Dort arbeitete Silas mit in der biblischen Unterweisung und Seelsorge. Die Gemeinde in Antiochia lernte ihn kennen. Sie adoptierte ihn und sandte ihn, den Fremden, anschliessend als ihren Missionar aus: “Von den Brüdern der Gnade Gottes anbefohlen”, d. h. gesegnet und gesandt. Wir sehen daran, dass mindestens zwei Gemeinden (Jerusalem und Antiochia) an der Vorbereitung, Berufung und Sendung des Silas teilhaben. Berufung gehört hinein in das normale Leben der Gemeinde. Sind wir solche Gemeindemitarbeiter wie diejenigen in Jerusalem, die einen fähigen Silas wahrnehmen, fördern, zum Leiter aufbauen, Verantwortung übertragen, ja sogar in den Leitungskreis mit hineinnehmen, um so die nächste Generation von Leitern zu schulen? Halten wir die Augen offen nach potentiellen Missionaren? Geben wir jungen Menschen eine Perspektive dafür, was Gott aus ihrem Leben machen könnte? Sind wir Mitarbeiter, die Berufungen aussprechen, wie die Gemeindeleitung in Jerusalem oder Paulus, die gezielt Menschen ansprechen? Dies ist eine Anfrage an alle Jugendgruppenleiter, Kindergottedienstmitarbeiter, Gemeindeältesten, Seelsorger und Pastoren. Das ist unser aller Verantwortung vor Gott. Die Berufung von Silas war keine private, persönliche Entscheidung. Viele Menschen hatten daran Anteil, waren einbezogen in das Geschehen und wurden von Gott dabei gebraucht. Das berufende Wort des Paulus, “Er aber wählte Silas” (V. 40), schenkte letzte Gewissheit. Haben wir so wenige Missionare heute, weil Gemeindeverantwortlichen der Mut fehlt, Berufungen auszusprechen, geeignete Mitarbeiter auf dem langen Weg der Vorbereitung zu begleiten und vielleicht sogar ihre besten Leute zu senden? Durch Sendung von Missionaren wird eine Gemeinde nicht ärmer, sondern bereichert. Daraus ergeben sich persönliche Anfragen an uns alle: Gott will mein Leben ganz. Er will es heute haben. Er will durch mich handeln – als Beter und Ermutiger, als Unterstützer und Missionspartner, als Person, die Berufungen ausspricht, als Teil einer sendenden Gemeinde – vielleicht auch als Person, die er sendet. Jeder Nachfolger Jesu ist zur Tür seines Nachbarn berufen, zu seinem Arbeitskollegen und Bekannten – mancher auch in ein anderes Land. Ja, unser Leben zählt! Autor: Detlef BlöcherÜbernatürliche Berufungen
Beispiel Silas
Gottes Berufen durch Fakten
Gottes Reden durch Mitchristen
Berufung als Prozess
Silas war ein bewährter Mitarbeiter in der Gemeinde in Jerusalem und wirkte bereits beim Apostelkonzil mit (Apg. 15,22), jenem Weltmissionskongress, bei dem grundlegende missiologische Entscheidungen getroffen wurden: Wie man Christ wird und als Christ leben kann und ob die jüdischen Satzungen für alle verbindlich sind.Gemeinde als Trainingsfeld
Gemeinde als Ort der Berufung
Keine private Entscheidung
Und ich?
Bin ich selbst bereit, mich senden zu lassen, d. h. die Anfrage einer verantwortlichen Person betend zu bewegen und als Gottes Reden in meinem Leben anzunehmen? So haben David, Silas, Paulus, Johannes Markus und Timotheus ihre Berufung erfahren. Oder schreiben wir Gott vor, wie er zu uns reden müsse und gelangen vielleicht nie zur Gewissheit? Jeder Einzelne ist als Beter und Ermutiger gerufen, für Missionsinteressierte in der Vorbereitung zu beten, sie zu beraten und persönlich zu begleiten. Wir alle dürfen teilhaben an der Berufung und Sendung von Menschen, dürfen Gottes Werkzeug sein. Stehe ich Gott zur Verfügung?
Datum: 17.10.2003
Quelle: Ethos