Urbeziehung

Die Mutter als Schicksal

Umarmung
Mutter und Tochter: Freundinnen
Elisabeth von Bibra

Das Verhältnis zur Mutter ist die Urbeziehung unseres Daseins. Unser erster Lebensfaden, der erste Herzschlag hängt mit ihr zusammen. Unter ihrem Herzen sind wir gewachsen. Und wir wissen heute, dass das im Mutterleib entstehende, sich entfaltende Kind an dem Leben der Mutter teilnimmt und schon in dieser Zeit geprägt wird.

Zum Vater besteht eine ganz andere Beziehung. Die lässt sich viel leichter von unserem Verstand steuern und dirigieren als die Verbundenheit mit der Mutter, weil diese vorgeburtliche Beziehung so viel tiefer geht und mit dem Verstand nicht zu erfassen ist. Wir wissen, dass ein Kind die Stimmungslage der Mutter miterlebt. Es hat eine Bedeutung für das Leben, ob die Mutter das Kind mit Freude erwartet oder mit Verneinung. Ob sie in friedlichen Verhältnissen lebt oder in viel Streit und Geschrei. Es geht um die tieferen Schichten unseres Daseins; um unser Sein, das wir nicht organisieren, nicht steuern, vorerst nicht beeinflussen können.

Die Mutter als Schicksal

Im Lexikon ist zu lesen, Schicksal ist eine Macht, die das Leben bestimmt. Daher befassen sich Fachleute wie Psychologen, Pädagogen und Theologen mit diesem Thema. Die Mutter hat eine prägende Macht. Macht kann positiv wie negativ, aufbauend oder zerstörend erlebt werden.

Kapital und Schulden

Ein alter Mann sagte einmal: «Ich habe mit meiner Mutter ein Kapital übernommen, von dem lebe ich heute noch.» Diese Aussage trifft den Kern und ist mein Schlüsselwort zu diesem Thema. Wir haben alle – mehr oder weniger bewusst – ein Kapital übernommen. Aber in jeder Kindheitsgeschichte machen sich in bestimmten Situationen auch Schulden bemerkbar. Kapital und Schulden. Beides ist in unserem Leben vorhanden, unterschiedlich bewusst und unterschiedlich gewichtet. Kapital vermehrt man mit Sachverstand, Schulden tilgt man so schnell wie möglich, weil sie einen sonst auffressen. Schulden kosten Zinsen.

Mein Kapital

Beim Nachdenken über mein Schicksal mit meiner Mutter prägen zwei Erinnerungen mein Leben. Es war die Ehe der Eltern, eine sehr schwierige Ehe. Ich habe sehr darunter gelitten, dass ich mit anschauen musste, wie zwei Menschen sich das Leben so schwer machten. Beide haben sich mir in Liebe zugewandt, aber diese Last blieb, das Miterleben dieses Leidens aneinander.

Das andere ist die Erinnerung an die Zeit meiner schweren Erkrankung an Scharlach. Ich bin mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Aber in der Zeit des Scharlachs gehörte mir meine Mutter ganz alleine. Wir beide lebten ganz von der übrigen Familie getrennt, wegen der Ansteckungsgefahr. In dieser Zeit habe ich meine Mutter kennen gelernt. Zuvor kannte ich sie als eine zarte, immer überlastete Frau. Überlastete Menschen reagieren sehr oft verletzend, missverständlich, verunsichernd und auch Furcht erregend. Aber in dieser Krankheitszeit erlebte ich meine Mutter als eine mitfühlende Frau. Niemand hat mich je wieder so zartfühlend gepflegt wie meine Mutter damals, vier Wochen lang. Danach musste ich nicht gleich wieder zur Schule; denn der Arzt fand eine Erholungszeit wichtig und schickte uns vier Wochen in die Berge.

In dieser Zeit lernte ich von meiner Mutter: Kranksein ist etwas Schönes, ist etwas Wichtiges. Das war dann auch mein in die Ehe mitgebrachtes Kapital: Krank sein ist etwas Schönes, etwas Notwendiges. Krank sein kann wichtig sein. Und so kam es vor, dass eins der Kinder sagte: «Mutter, ich denke, ich muss mal krank sein.» Ich antwortete, das könne sehr wohl sein, und schrieb auf die Entschuldigung, was der Tatsache entsprach. «Meine Tochter, mein Sohn ist leider an der Teilnahme des Unterrichts verhindert wegen Unpässlichkeit», denn es passte gerade wirklich nicht. Das wussten wir als Familie: Kranksein ist schön und wichtig zu bestimmten Zeiten.

Die Schulden

Natürlich habe ich auch die ganzen Ehekonflikte meiner Eltern mitgenommen – als Schulden. Zuerst war mir das nicht bewusst, aber ich merkte: Wenn ich die Schwierigkeiten meiner Ehe so unüberlegt zulasse, wird meine Ehe den gleichen Weg gehen wie die Ehe meiner Eltern. Ich musste lernen, Schulden zu tilgen. Ich musste für unsere Differenzen neue Strukturen entwickeln.

Ich will mit meiner Offenheit deutlich machen, Sie vielleicht für die Wahrnehmung gewinnen: «Ja – meine Mutter begleitet mich, bewusst oder unbewusst.» Es ist sehr wichtig, dass Unbewusstes bewusst wird, damit das Leben nicht einer Macht ausgeliefert bleibt, die «Schicksal» heisst. Unser Leben muss befreit werden zu seinem eigenen Dasein.

Vater und Mutter verlassen

Die Bibel sagt, dass der Mensch Vater und Mutter verlassen wird. Dieses Verlassen hängt mit dem Umgang, dem Bearbeiten der Mutter-Kind-Beziehung zusammen. Es kann sein, dass wir lieber am Vertrauten festhalten. Festgelegtes kennen wir und wissen, wie arm wir sind, wie gut oder nicht gut. Aber es gilt, diese Macht, die mein Leben bestimmt als eine Herausforderung wahrzunehmen und anzunehmen, als tiefste Lebensaufgabe schlechthin, die Beruf, Familie und den Ort, wo wir zu leben haben, bestimmt und zutiefst prägt.

Bin ich meinem Schicksal ausgeliefert?

In allen Religionen ist diese Frage zu finden, und sie prägt die Menschheitsgeschichte. Die Bibel sagt etwas, was so viele Menschen missverstanden haben. «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.»

Ehren heisst nicht, für fehlerlos zu erklären. Ehren ist der Gegensatz von verachten. Verachten würde heissen, etwas unbeachtet zu lassen. Ehren heisst, damit umzugehen. Es gibt Menschen, die wagen nie, kritisch nachzudenken. Gott will, dass ich mich verantwortlich weiss, mein Leben mit meinem Willen, mit meinem Sein, mit meinen Entschlüssen selbst steuere und verwalte. Mein Schicksal zu betrachten heisst, die dringlichste Lebensaufgabe kennen und wahrnehmen lernen und mich ihr zu stellen.

Wer war meine Mutter?

Das ist eine subjektive Wahrnehmung und etwas, was Sie zulassen dürfen, ohne Angst bei negativen Erinnerungen; es ist Ihre Lebenswirklichkeit und Ihre subjektive Wahrnehmung! Es ist wichtig, sie zu kennen.

Die Beziehungen unter Menschen sind von Person zu Person wie auch von Kind zu Kind verschieden. In einer Familie stehen ein Kind und die Mutter sich näher, während ein anderes Kind und die selbe Mutter sich weniger liegen.

Mut zur Wahrheit

«Die Mutter war hart, also bin ich hart; sie war jähzornig, also bin ich jähzornig.» Sie sagen: «Meine Mutter war eine liebende Mutter, sie war besorgt um meine Entfaltung. Es ging mir gut bei ihr, sie hat mir sehr viel in meinem Leben geholfen.»

War die Mutter eine reife oder eine unreife Frau? Manche Kinder erleben beides: Zuerst erleben sie eine unreife Frau und, wenn es gut geht, später eine reifere. Hatten Sie Zugang zu Ihrer Mutter, konnten Sie sich ihr öffnen? Oder fühlten Sie sich unverstanden, abgelehnt? Waren Sie verkehrt, einfach nicht so, wie Ihre Mutter Sie haben wollte? Merkten Sie immer wieder: Ich bin nicht wie das Bild, das sie von mir hat. Ich bin ihr fremd und sie ist mir auch fremd.

War Ihre Mutter ein Leistungstyp? Waren die Schulnoten entscheidend für den Frieden zuhause? War es immer picobello sauber, und deshalb haben Sie Schwierigkeiten, den Staub auf dem Klavier zu übersehen?

Hat Ihre Mutter Sie verwöhnt, Ihnen alle Steine aus dem Weg geräumt? Haben Sie es schwer im Leben, weil Sie es zu Hause leicht hatten? Hatten Sie eine Mutter, die ganz bewusst weitere Kinder ablehnte, um Sie ganz alleine zu haben? Waren Sie ein Besitz, etwas, was ihr gehörte und worüber sie bestimmte? Zwar mit viel Gold und Kostbarkeit eingehüllt, aber bewegungsunfähig... Oder war es eine Mutter, die sich in Sie hineinfühlen konnte, die nicht Besitz ergreifend war? Waren Sie für ihr Renommee verantwortlich? Oder hatten Sie eine Mutter, die eine Blamage mit Ihnen aushalten konnte?

Lebte Ihre Mutter in einer glücklichen oder unglücklichen oder gar keiner Ehe? Welche Gefühle löst das Nachdenken über Ihre Mutter aus? Kommt Ihnen Dankbarkeit für das, was Ihre Mutter war, oder sagen Sie: für Dankbarkeit habe ich nicht viel Grund? Kommen Schuldgefühle auf, weil Sie waren, wie Sie waren, zum Beispiel in der Pubertät? Vielleicht hat Ihre Mutter über Sie geweint. Vielleicht haben Sie etwas verheimlicht. Vielleicht wurde sie sehr verletzt von Ihnen. Oder sagen Sie: In mir ist nur Schmerz, Bitterkeit, Hass; tiefe Enttäuschung, je mehr ich merke, was mir meine Mutter schuldig geblieben ist? Da ist keine Mutter, da ist keine Frau, die um mich bemüht war?

Überraschend ist, dass es offensichtlich wenig ausmacht, ob die Mutter eine reiche oder arme Frau war, eine gebildete oder ungebildete. Das ist viel zu oberflächlich. Es geht um tiefere Schichten, um die Fragen nach dem Herzen.

Auch keine Mutter zu haben, ein Waisenkind zu sein, ist ein Schicksal und eine das Leben bestimmende Tatsachen.

Schatten auf Ihrem Leben

Wenn die Mutter als Schicksal nicht eine bestimmende Macht bleiben soll, dann ist wichtig, dass Sie zulassen, was auch schmerzlich ist und einen Schatten auf Ihr Leben wirft. Oft ist die Beschäftigung mit der Mutter ein erster Schritt in einem Prozess. Es ist wichtig, die aufkommenden Gefühle wahrzunehmen und zu beantworten; sich auch bewusst zu machen, was schrecklich, was negativ war.

Ein positives Gefühl wäre Dankbarkeit. Wir müssten eine überglückliche Nation und für so vieles dankbar sein und haben doch immer mehr Bedarf an Psychotherapeuten, weil wir so unglücklich sind. Andere Völker erleben Glück über Kleinigkeiten, das wir nicht einmal mit dem Besitz der Welt zustande bringen. Dankbarkeit braucht ihre Form. Im Reflektieren über mein Leben komme auch ich zu Erkenntnissen wie: «Das hätte ich nie und nimmer so tun dürfen!» Ein ganz grosses Glück ist für mich, wenn eines meiner Kinder an einer Stelle seines wirklichen Lebens – bei den Hausaufgaben mit den Kindern oder beim Schreiben – innehält und sagt: «Ich danke dir, dass du damals so warst, wie du warst. Damals gab es für mich keinen Grund zu danken – aber heute will ich dir danken.»

Vielleicht lebt Ihre Mutter nicht mehr, aber der Gott, der Ihnen Ihre Mutter gab, der lebt. Bei ihm können Sie sich bedanken, und das wird Ihnen gut tun. Gott zu danken, wird Ihr Leben bereichern. Übrigens gibt es auch Gräber. Es ist für mein Leben nicht unwichtig, an einem Grab zu stehen und einen Dank zu formulieren. Das hat mit dem Toten, der dort ruht, weniger zu tun als mit mir. Vielleicht ist es ein Stück Versöhnung.

Bedingungslose Vergebung

Und die Trauer, die Schuldgefühle, das Sich-schlecht-Fühlen? Wenn Sie nicht gerne an die Mutter denken, weil es so schlecht war? Vorwürfe, auch Selbstvorwürfe machen das Leben kaputt.

Der christliche Glaube ist die einzige Religion, die bedingungslose Vergebung anbietet. Bedingungslose Vergebung gibt es nur bei Gott. Finden Sie das für Ihr Leben unwirklich? Sie waren in der Kirche, danach war alles wie zuvor... Es kann in bestimmten Situationen eine Hilfe sein, vor einem Menschen etwas auszusprechen, was in der Zweisamkeit mit Gott offensichtlich nicht seine richtige Resonanz findet. Die katholische Kirche nennt das Beichte. Das Angebot, etwas auszusprechen, damit Vergebung erlebbare Wirklichkeit wird. Diese Möglichkeit gibt es gewiss nicht nur für Katholiken. Es ist für mein Leben wesentlich, dass jemand mir sagt: «Dir ist vergeben im Namen Jesu. Gehe hin in Frieden!» Dieser Friede ist real.

Gott will, dass es uns gut geht; er will unsere Freiheit. Deshalb sein Angebot der Vergebung, für die wir nichts leisten müssen. Er sagt: «Es ist genug, dass du zu mir kommst, wie ein Kind zu seinem Vater kommt und bekennt: Es tut mir leid.» Gott will, dass Sie mit Frieden an Ihre Mutter denken.

Versöhnung

Wenn Ihre Mutter noch lebt, folgt vielleicht ein zweiter Schritt der Entschuldigung. Es kann sein, dass die Mutter Sie liebevoll in die Arme nimmt und sagt: «Ich wusste, dass du kommen wirst. Ich warte schon so lange auf dich; es ist alles gut.»

Es kann sein, dass eine Mutter sehr verletzt ist und abwinkt wie ein Mensch, der zurückweicht, wenn eine schmerzende Wunde berührt wird. Es kann sein, dass die Mutter total zumacht, weil ihre eigene Schuld sie einholt; weil sie leidet und kaputt ist unter ihrem Muttersein. Ordnen Sie eine solche Reaktion richtig ein; seien Sie nicht enttäuscht. Entschuldigungen haben immer eine Wirkung, manchmal eine Langzeitwirkung.

Und die Erinnerungen?

Was wird aus Hass, aus Bitterkeit und Enttäuschung? Stellen Sie fest, Sie sind selbst bitter geworden? Haben Sie eine bittere Ehe; ist da viel Vorwurf und Härte? Sind Sie unverheiratet und Ihre Beziehungen gehen immer wieder kaputt, weil Sie nicht vergeben können, weil Sie so berechnend, bestimmend und Besitz ergreifend sind? Haben Sie neue Wunden geschlagen, weil Sie ein verwundeter Mensch sind? Das ist die grosse Gefahr, wenn wir mit unseren eigenen Wunden nicht umgehen können. Verwundete Menschen wirken verwundend.

Jesus lädt Sie ein: «Wenn du dich abmühst und belastet bist mit deiner Erinnerung, mit deinen Verwundungen, mit deiner Lebensbehinderung, dann komm zu mir; ich will dich entlasten und erquicken.» Erquicken, das heisst heilen, erneuern und aufrichten. Er hat die Möglichkeit, aus Unheil Heil zu machen. Aber wir müssen zu ihm kommen, das heisst wir dürfen, so wie wir sind. Er sagt: «Ich liebe dich unter allen Umständen, du kannst ungeschützt zu mir kommen, ohne Angst vor Liebesentzug.»

Menschen sind unterschiedlich und erleben das Heil in Christus unterschiedlich. Suchen Sie sich Ihren eigenen Weg, der Ihnen entspricht, in dem Sie sich wohl fühlen. Suchen Sie Ihre persönliche Gottesbeziehung. Sein Wunsch ist, dass Ihr Schicksal zu einer tiefen Heilung und Befreiung führt, zu einem tiefen Glück des Heil-geworden- Seins, dass souveräner Friede wird. Jeder von uns darf Vater und Mutter verlassen und frei werden für sich selbst. Dann ist das Schicksal nicht mehr eine Fessel, sondern eine Kraft, die unser Leben inspiriert.

Freifrau Elisabeth von Bibra, D-Bibra Mutter von fünf Töchtern und einem Sohn

Autor: Elisabeth von Bibra

Datum: 21.06.2005
Quelle: Reflexionen

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