Die Bibel als Symbol der Freiheit in Italien
1607 veröffentlichte Giovanni Diodati seine italienische Übersetzung der Bibel. Im Land der Päpste wurde ihre Verbreitung unterdrückt. Noch im 19. Jahrhundert galt Bibellesen als freidenkerisch und subversiv. Die Diodati-Bibel hat das Leben der Menschen nicht nur im religiösen und sozialen, sondern zuweilen auch im politischen Bereich beeinflusst. Heute verbindet sie alle Denominationen des italienischen Protestantismus.
Erste Übersetzungen
Man findet bereits einzelne biblische Texte in italienischer Sprache im 13. Jahrhundert, doch die erste vollständige Übersetzung auf Italienisch erstellte der Mönch Niccolò Malermi aus dem Lateinischen; sie erschien 1471 in Venedig. Während der Reformation wuchs das Interesse an den Originaltexten, und die Bibel wurde für viele zur einzigen Quelle, um Jesus Christus kennen zu lernen. Zahlreiche Übersetzungen in Nationalsprachen wurden in Angriff genommen, damit die Gläubigen sie selber lesen konnten.
1532 erschien in Venedig die italienische Bibelübersetzung von Antonio Brucioli. Doch dann reagierte die katholische Kirche mit dem Konzil von Trient (1545–1563) auf die reformatorische Bewegung: Der offizielle Gebrauch der lateinischen Vulgata wurde bestätigt und der Besitz der Bibel in der Landessprache stark eingeschränkt. Nach 1567 wurden in Italien keine Bibeln auf Italienisch mehr publiziert, und das Lesen der Bibel blieb für Laien während Jahrhunderten offiziell verboten.
Die Gegenreformation
Mit der Einführung der päpstlichen Inquisition (1542) begann die gewaltsame Verfolgung der Protestanten in Italien. Sie standen vor der Entscheidung, entweder dem neuen Glauben ganz abzuschwören oder ins protestantische Ausland zu flüchten. Viele von denen, die das Exil wählten, fanden Schutz und Aufnahme im reformierten Genf. Hier hatte Johannes Calvin 1536 sein grundlegendes Werk Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion) veröffentlicht, in dem er seine Doktrin systematisch darlegte, und 1559 die Académie gegründet, in welcher Pfarrer und weitere verantwortliche Mitglieder der Kirche ausgebildet wurden. Von Genf aus gingen Impulse in alle reformierten Kirchen, die trotz der Gegenreformation nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Frankreich, Schottland, England, Holland, Ungarn, Polen und Italien entstanden und schliesslich in Nordamerika eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Neuen Welt spielten.
Giovanni Diodati (1576–1649)
Die grösste Gruppe unter den italienischen Flüchtlingen in Genf war jene aus Lucca. Sie achtete darauf, die eigene Kultur zu wahren, bekannte sich aber mit Enthusiasmus zur Lehre von Calvin und trug wesentlich zur Finanzierung der Académie bei. Zu ihr gehörten auch die Diodati, eine angesehene und begüterte Handelsfamilie. Mehrere ihrer Mitglieder nahmen die Ideen der Reformation auf und mussten deswegen ins Ausland fliehen. Einer von ihnen war Michele, der sich 1567 in Genf niederliess und dort zur reformierten Italienergemeinde stiess. Er war der Vater von Giovanni, der 1576 in Genf geboren wurde.
Giovanni Diodati studierte an der Académie Theologie und schloss 1596 mit einer Doktorarbeit über die Heilige Schrift ab. Kurz danach wurde er selber an die Académie berufen, auf den Lehrstuhl für Hebräisch. Er war ein angesehener und loyaler Interpret des Gedankengutes von Calvin und seinem Schüler Theodor Beza, der seit 1559 als Rektor dieser Institution amtete. Nach Bezas Tod folgte ihm Diodati auf dem Lehrstuhl für Theologie und wurde zu einer Stütze der calvinistischen Orthodoxie.
Incognito in Venedig
Seine Bibelübersetzung aus den Urtexten in die italienische Sprache publizierte Giovanni Diodati 1607 in Genf. 1608 wurde er zum Pfarrer ordiniert und ging im selben Jahr unter einem Decknamen nach Venedig. Dort schloss er sich Paolo Sarpi an, der die Kirche der Republik Venedig zu reformieren versuchte. 1612 war er wieder in Genf und übernahm die Leitung der italienischen Gemeinde. 1618–1619 wurde Diodati an die Synode von Dordrecht (Holland) eingeladen. Dort verteidigte er mit Erfolg die Prädestinationslehre Calvins und brachte die Synode dazu, seinen in den Canones formulierten Schlussfolgerungen zuzustimmen, welche für lange Zeit Gültigkeit für alle reformierten Kirchen Europas behielten.
Sein ganzes Leben lang beschäftigte sich Diodati mit der Übersetzung biblischer Texte. 1631 gab er eine Psalmenübersetzung in italienischen Versen heraus, die er vertonen lassen wollte, sodass sie während dem Gottesdienst gesungen werden konnten (die vertonte Ausgabe wurde erst 1664 von einem seiner Söhne in Harlem herausgegeben). Trotz überwiegend positiver Beurteilung seiner Bibelausgabe von 1607 nahm er noch in vorgerücktem Alter eine vollständige Revision vor und publizierte 1641 in Genf eine zweite, verbesserte und kommentierte Version. 1644 beendete er zudem eine Übersetzung der Bibel auf Französisch, die er mehr als zwanzig Jahren früher begonnen hatte. Giovanni Diodati starb 1649 in Genf.
Verhinderte Saat
Giovanni Diodati ist vor allem wegen seiner Bibelübersetzung berühmt. Mit seiner ersten Übersetzung wollte er für die Reformation in Italien einen verständlichen Text liefern. Die 1607 publizierte Bibel hatte daher ein recht handliches Format und das Frontispiz zeigte einen Sämann, welcher Samen auf einem Feld aussät.
Die zweite Ausgabe widerspiegelte die veränderte historische Situation. Nach dem Massaker an den Reformierten im Veltlin (1620) konnte nicht mehr an eine Evangelisation Italiens gedacht werden. Die Bibel von 1641 war daher grösser, mit ausführlichen Anmerkungen versehen und für Studierende und Familien sowie für den Gebrauch in der Kirche gedacht.
So sehr die Diodati-Bibel im 17. Jahrhundert von den italienischsprachigen Reformierten geschätzt wurde, so entschieden wurde sie von allem Anfang an von der katholischen Kirche abgelehnt. In Italien wurde sie trotz allem von den Waldensern heimlich gelesen, was ihnen oft zum Verhängnis wurde. Während der «Piemontesische Ostern» genannten Verfolgungen (1655) wurde die Diodati-Bibel zu Tausenden verbrannt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erschienen mehrere Neuausgaben in Deutschland.
Wer die Bibel las, war subversiv
1804 wurde in London die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft (British and Foreign Bible Society, BFBS) gegründet. Der für die Bibelverteilung in Italien zuständige englische Vertreter in Malta bat dringend um eine italienische Ausgabe. So wurde 1808 im Auftrag der BFBS das Neue Testament in der Übersetzung von Diodati neu aufgelegt, und 1819 erschien in London eine revidierte Version der vollständigen Bibel von 1641.
Diese Bibel sollte während der Einigungsbestrebungen (1815–1861) in Italien einen subversiv-symbolischen Wert erhalten: Ihre Verbreitung wurde von den Freiheitskämpfern Mazzini und Garibaldi gefördert, denn wer sie besass und las, gab sich als frei denkender Mensch zu erkennen. Natürlich war sie aber vor allem Zeichen von evangelischem Glauben, und wer eine besass, musste mit Verfolgung rechnen. Die italienischen Unabhängigkeitskriege endeten 1870 mit der Eroberung Roms.
Die erste in Italien publizierte Ausgabe des Neuen Testaments von Diodati wurde 1860 von der Claudiana gedruckt. Dieser protestantische Verlag war fünf Jahre zuvor in Turin, im Königreich Piemont-Sardinien, gegründet worden, in dem die Waldenser bereits 1848 die Bürgerrechte erhalten hatten. Die BFBS, welche ab 1851 ebenfalls von Turin aus gewirkt hatte, eröffnete nach 1870 in Rom eine autonome Niederlassung. Sofort begannen Strassenhändler unter tausend Schwierigkeiten mit der Verteilung von Bibeln in ganz Italien. Wegen dieser missionarischen Arbeit wurde die BFBS mehrere Male vom Vatikan offiziell verurteilt. Aber die Verbreitung der Diodati-Bibel war nicht mehr aufzuhalten.
Die Revision der Diodati-Bibel
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beauftragte die BFBS ein Komitee mit der Revision der Übersetzung von Diodati. Es sollten vor allem Urtexte aus alten Manuskripten beigezogen werden, welche zur Zeit ihrer Erstellung noch nicht bekannt gewesen waren. So entstand unter der Leitung von Giovanni Luzzi eine wissenschaftlich fundierte Ausgabe, die Riveduta (revidierte Version). Doch auch diese Version wurde vom Vatikan nicht akzeptiert. Die vom Faschismus auferlegten Vorschriften bewirkten zudem, dass die Aktivitäten der BFBS in Italien für längere Zeit blockiert wurden.
Wende im Zweiten Vatikanischen Konzil
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) forderte auch die katholische Kirche, dass der Zugang zur Heiligen Schrift für alle Glaubenden weit offenstehen müsse. 1971 gab die italienische Bischofskonferenz eine offizielle Version heraus, und 1985 erschien eine interkonfessionelle Übersetzung in der italienischen Umgangssprache (Traduzione interconfessionale in lingua corrente, Tilc). Die revidierte Version der Diodati-Bibel behielt jedoch weiterhin ihre Bedeutung in allen reformierten Kirchen italienischer Sprache und wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts nochmals überarbeitet, woraus die Nuova riveduta entstand (1994).
Durch alle Jahrhunderte hindurch war die Diodati-Bibel für jene, die sie lasen, eine Quelle von Glauben und Freiheit. Sie zu lesen, war und ist bis heute ein Privileg.
Italiens Protestanten – weiterhin verachtet
Homepage der Schweizerischen Bibelgesellschaft
Autor: Marco Cignoni, Bearbeitung Livenet
Quelle: Die Bibel aktuell. Zeitschrift der Schweizerischen Bibelgesellschaft, Biel, 3/2007
Datum: 31.10.2007