Addis Abeba, die «diplomatische Hauptstadt Afrikas», meldet sich zurück. Vorbei die Zeit, als die Landesführer ihre Nation, den einstige Brotkorb Afrikas, in ein entsetzliches Hungerreich verwandelten. Im prächtigen Regierungsgebäude sitzen heute auch solche, die nicht nur in die eigenen Taschen wirtschaften – und das ist in Afrika bemerkenswert. Die Armut wird zurückgedrängt. Durch wirtschaftlichen Fortschritt aber auch durch gezieltes Verstecken durch die Regierung. Die Touristen, auf die man zusehends setzt, sollen nicht belästigt werden. Die Armut freilich ist weiterhin erdrückend, und überall stösst man noch auf Bettler. Für manche Kinder ist das aber einfach ein Spiel. Sie schauen, wie viel sie den «Forenschi», den Fremden, abluchsen können. «Give money, give money», kreischen ein paar Kinder. «Gib Geld, gib Geld.» Nichts da. Der Spiess wird umgedreht und die Hand hingehalten: «Gib Du mir Geld!» Die Kleinen schauen verdutzt. Dann lachen sie. Ein Einheimischer kritisiert: «Äthiopien hätte sich schon lange aus seiner misslichen Lage herausarbeiten können. Wir könnten uns längst selber ernähren. Aber stattdessen betteln wir bei der Internationalen Gemeinschaft.» Daraus ist eine ganze «Industrie» entstanden. Hilfswerke, die echte Krisenherde umgehen, erfinden Hungersnöte, und örtliche begrenzte Notlagen werden zu nationalen Desastern aufgebauscht. Sogar das UNO-Werk WFP (World Food Programm) machte im Jahr 2003 bei einer solchen Vertuschungsaktion mit. Statt beim Aufbau zu helfen wird die «Give me»-Mentalität gefördert. Eine ganze Generation ist inzwischen damit aufgewachsen. Der Vorname der 30jährigen Jerusalem Worku ist eine Ohrenweide. Und wie alle Äthiopier ist die Leiterin des «Misrah Center» sehr schön, und darauf sind die Menschen hier stolzer als die Schweizer auf das Matterhorn, den Rütlischwur und die Heidi-Geschichte zusammen. So werden die Europäer bedauert, wenn sie von Äthiopien aus in andere Länder zu «diesen weniger schönen Menschen» reisen müssen (die Äthiopier drücken sich da ungleich deutlicher aus). Einen Anti-Rassismus-Artikel gibt es in der äthiopischen Gesetzgebung vermutlich nicht. 160 behinderte Menschen arbeiten im Center, das die Schweizer Organisation «Mission am Nil» aufgebaut hat. Die blinde Jealganesh bindet Bürsten. Wenn sie Materialnachschub braucht, stellt es ihr ein anderer Mitarbeiter hin. In einem Raum wird mit Maschinen Holz verarbeitet. «Die Männer sind taub», sagt Jerusalem Worku. Der ohrenbetäubende Lärm stört sie nicht. Und das ist mit ein Grund, warum sie in dieser Abteilung arbeiten. Daneben werden in diesem Center Brillen für arme Menschen, Möbel, Näharbeiten und vieles anderes hergestellt. Behinderte leben in Äthiopien am Rand der Gesellschaft. Die Familie schämt sich ihrer und versteckt sie oft im Haus. Das «MC» schafft für diese Menschen ein neues Bewusstsein. Denn in Dutzenden Fällen dreht sich die Sachlage so, dass ausgerechnet das behinderte Familienmitglied durch seine Arbeit das wirtschaftliche Überleben der Familie sichert. Manchmal ist diese Person die einzige in der Familie, die einen Lohn nach Hause bringt. Für diese Arbeit hat die Stadtverwaltung auch schon Auszeichnungen vergeben. Eine Gruppe von drei behinderten Frauen konnte sich mit einem kleinen Geschäft selbständig machen. Für dieses Durchsetzungsvermögen überreichte ihnen die Stadt Addis Abeba ein Diplom. Sie ermutigt das «MC» zum Expandieren, denn es holt die Armen von der Strasse und macht sie zu einem produktiven Teil der Gesellschaft. Neben diesem Handwerksbetrieb führt die Mission auch eine Schule für 80 Blinde. Jugendliche und Erwachsene lernen hier die Blindenschrift. «Das ist ein E», sagt der Lehrer und klappert auf seiner Schreibmaschine. «Und das ist ein P und das ein C.» Der selber ebenfalls blinde Lehrer unterrichtet hier seit 22 Jahren. Er weist auf fünf schwere Bücher in Blindenschrift. «Wenn die Schüler die alle durchgearbeitet haben, sind sie gute Leser.» Die meisten besuchen anschliessend die reguläre Schule. Die Blindenschule der Mission am Nil ist die einzige Schule für blinde Erwachsene im ganzen Land. Dort wurde auch eine Blinden-Schrift in Amharisch kreiert, die die staatlichen Schulen dann übernahmen. Siehe auch Teil 2: Äthiopien: Ochsen, Geier, Ackerbau Geschäfte mit der Not
Unikum: Behinderte ernähren Gesunde
Diese Hilfe lohnt sich
Auch der Lehrer ist blind
Oder Teil 3: Geburt auf dem Lkw
Datum: 03.11.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch