Behinderte ernähren in Äthiopien ihre Familien

Strassenszene aus Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens. (Alle Fotos: Irene Gerber)
Addis Abeba. Sie wird auch «die diplomatische Hauptstadt Afrikas» genannt.
Wegen seines Anzugs nannten wir diesen Jungen «Mr. President».
Mit dieser Bürde kann die Frau ein wenig Geld verdienen – ein vielgesehenes Bild in einem Aussenbezirk der Stadt.
Weisse sind die Attraktion – besonders für die Kinder.
Blinde Bürstenbinderinnen im «Misrah Center».
Behinderter Mitarbeiter im «Misrah Center».
Sie heisst mit Vornamen «Jerusalem» und leitet das Center.
Der Leiter der Blindenschule.
Dieses Mädchen lernt die Blindenschrift.

Äthiopien strebt langsam wieder auf. Doch Behinderte leben am Rand der Gesellschaft und werden von manchen Familien ausgestossen. Einige aus dem Behindertenzentrum jedoch arbeiten und ernähren damit ihre Familie.

Addis Abeba, die «diplomatische Hauptstadt Afrikas», meldet sich zurück. Vorbei die Zeit, als die Landesführer ihre Nation, den einstige Brotkorb Afrikas, in ein entsetzliches Hungerreich verwandelten. Im prächtigen Regierungsgebäude sitzen heute auch solche, die nicht nur in die eigenen Taschen wirtschaften – und das ist in Afrika bemerkenswert. Die Armut wird zurückgedrängt. Durch wirtschaftlichen Fortschritt aber auch durch gezieltes Verstecken durch die Regierung. Die Touristen, auf die man zusehends setzt, sollen nicht belästigt werden.

Die Armut freilich ist weiterhin erdrückend, und überall stösst man noch auf Bettler. Für manche Kinder ist das aber einfach ein Spiel. Sie schauen, wie viel sie den «Forenschi», den Fremden, abluchsen können. «Give money, give money», kreischen ein paar Kinder. «Gib Geld, gib Geld.» Nichts da. Der Spiess wird umgedreht und die Hand hingehalten: «Gib Du mir Geld!» Die Kleinen schauen verdutzt. Dann lachen sie.

Geschäfte mit der Not

Ein Einheimischer kritisiert: «Äthiopien hätte sich schon lange aus seiner misslichen Lage herausarbeiten können. Wir könnten uns längst selber ernähren. Aber stattdessen betteln wir bei der Internationalen Gemeinschaft.» Daraus ist eine ganze «Industrie» entstanden. Hilfswerke, die echte Krisenherde umgehen, erfinden Hungersnöte, und örtliche begrenzte Notlagen werden zu nationalen Desastern aufgebauscht. Sogar das UNO-Werk WFP (World Food Programm) machte im Jahr 2003 bei einer solchen Vertuschungsaktion mit. Statt beim Aufbau zu helfen wird die «Give me»-Mentalität gefördert. Eine ganze Generation ist inzwischen damit aufgewachsen.

Unikum: Behinderte ernähren Gesunde

Der Vorname der 30jährigen Jerusalem Worku ist eine Ohrenweide. Und wie alle Äthiopier ist die Leiterin des «Misrah Center» sehr schön, und darauf sind die Menschen hier stolzer als die Schweizer auf das Matterhorn, den Rütlischwur und die Heidi-Geschichte zusammen. So werden die Europäer bedauert, wenn sie von Äthiopien aus in andere Länder zu «diesen weniger schönen Menschen» reisen müssen (die Äthiopier drücken sich da ungleich deutlicher aus). Einen Anti-Rassismus-Artikel gibt es in der äthiopischen Gesetzgebung vermutlich nicht.

160 behinderte Menschen arbeiten im Center, das die Schweizer Organisation «Mission am Nil» aufgebaut hat. Die blinde Jealganesh bindet Bürsten. Wenn sie Materialnachschub braucht, stellt es ihr ein anderer Mitarbeiter hin.

In einem Raum wird mit Maschinen Holz verarbeitet. «Die Männer sind taub», sagt Jerusalem Worku. Der ohrenbetäubende Lärm stört sie nicht. Und das ist mit ein Grund, warum sie in dieser Abteilung arbeiten. Daneben werden in diesem Center Brillen für arme Menschen, Möbel, Näharbeiten und vieles anderes hergestellt.

Diese Hilfe lohnt sich

Behinderte leben in Äthiopien am Rand der Gesellschaft. Die Familie schämt sich ihrer und versteckt sie oft im Haus. Das «MC» schafft für diese Menschen ein neues Bewusstsein. Denn in Dutzenden Fällen dreht sich die Sachlage so, dass ausgerechnet das behinderte Familienmitglied durch seine Arbeit das wirtschaftliche Überleben der Familie sichert. Manchmal ist diese Person die einzige in der Familie, die einen Lohn nach Hause bringt.

Für diese Arbeit hat die Stadtverwaltung auch schon Auszeichnungen vergeben. Eine Gruppe von drei behinderten Frauen konnte sich mit einem kleinen Geschäft selbständig machen. Für dieses Durchsetzungsvermögen überreichte ihnen die Stadt Addis Abeba ein Diplom. Sie ermutigt das «MC» zum Expandieren, denn es holt die Armen von der Strasse und macht sie zu einem produktiven Teil der Gesellschaft.

Auch der Lehrer ist blind

Neben diesem Handwerksbetrieb führt die Mission auch eine Schule für 80 Blinde. Jugendliche und Erwachsene lernen hier die Blindenschrift. «Das ist ein E», sagt der Lehrer und klappert auf seiner Schreibmaschine. «Und das ist ein P und das ein C.» Der selber ebenfalls blinde Lehrer unterrichtet hier seit 22 Jahren.

Er weist auf fünf schwere Bücher in Blindenschrift. «Wenn die Schüler die alle durchgearbeitet haben, sind sie gute Leser.» Die meisten besuchen anschliessend die reguläre Schule. Die Blindenschule der Mission am Nil ist die einzige Schule für blinde Erwachsene im ganzen Land. Dort wurde auch eine Blinden-Schrift in Amharisch kreiert, die die staatlichen Schulen dann übernahmen.

Siehe auch Teil 2: Äthiopien: Ochsen, Geier, Ackerbau
Oder Teil 3: Geburt auf dem Lkw

 

Datum: 03.11.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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