Geben die Kirchen ihren Kern auf?

Johann Baptist Metz
Schloss Ahaus
Wolfgang Huber

Mit der Zeit gehen, den gesellschaftlichen Fortschritt mitvollziehen, den Leuten nach dem Maul reden, alte Zöpfe abschneiden: Viele Kirchen haben sich diesen Forderungen ergeben. Doch wenn sie im Zuge der Modernisierung ihren Kern aufgeben, verlieren sie ihre gesellschaftliche Bedeutung.

Unter Säkularisierung versteht man die Loslösung der verschiedenen Lebensbereiche aus einem religiösen Gesamtzusammenhang. Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Ethik, Freizeitverhalten und persönliche Moral lassen sich in unseren Breitengraden nicht mehr von religiösen Autoritäten bestimmen. Seit Jahren macht auch das ätzende Wort ‚Selbstsäkularisierung’ die Runde. Wenn die Kirchenverantwortlichen selbst mitschwimmen im reissenden Strom des Pluralismus, degradieren sie die Kirchen zu Angeboten auf dem globalen Sinn-Markt, die man beliebig nutzen oder auch links liegen lassen kann.

Metz: Druck eines "forcierten Pluralismus der Religionen"

In einem Vortrag vor dem Ahauser ‚Forum Politische Theologie’ am 15. März hat der bekannte katholische Theologe Johann Baptist Metz die Kirchen vor Tendenzen zum Rückzug aus der Gesellschaft gewarnt. Er sehe die Gefahr einer "Selbstsäkularisierung des kirchlichen Christentums", sagte Metz. Diese werde immer dort sichtbar, wo sich die Christen dem Druck eines "forcierten Pluralismus der Religionen" beugten und sich zu einer kleinen elitären Herde stilisierten. Damit gebe das Christentum seinen "genuin öffentlichen Kern preis".

Nach welchen Vorgaben leben wir zusammen?

Durch einen kirchlichen Säkularismus drohe die Gefahr, dass die Rede von Gott gänzlich in Vergessenheit gerate, hob der prominente politische Theologe hervor. Die mangelnde Fähigkeit, religiös reden zu können, führe zu einer immer stärkeren Anpassung der Kirchen an gesellschaftliche Trends. Dabei sei eine von Religion frei gehaltene Öffentlichkeit keineswegs neutral, sagte Metz auf Schloss Ahaus. Bei Fragen nach den Bedingungen des Zusammenlebens dürfe sich das Christentum nicht aus der Verantwortung ziehen.

Huber: Christentum hat öffentlichen Charakter

Das Christentum habe öffentlichen Charakter und dürfe nicht in die Privatheit einer kleinen Herde abwandern, betonte auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber. Allerdings habe die Selbstsäkularisierung als Antwort auf die gesellschaftliche Verweltlichung bereits stattgefunden. Huber beklagte eine immer häufigere Verschiebung kirchlicher Aktivitäten zu gesellschaftspolitischen Diskursen und sozialem Engagement. Dadurch werde der Kern des Glaubens, die "Feier des Geheimnisses", ausgeblendet, so der Berliner Bischof.

Religion darf nicht ins Private abrutschen

Auch der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde wandte sich an der Veranstaltung gegen eine Verdrängung der Religion aus der europäischen Öffentlichkeit. Es bestehe die Gefahr, dass die säkulare Ordnung in einen französischen Laizismus kippe und Religion gänzlich ins Private abrutsche. "Wahre Säkularität" neige hingegen weder zu vollständiger Säkularisierung noch zum missionarisch-religiösen Modell, so der renommierte Staatsrechtler.

Datum: 27.03.2006
Autor: Peter Schmid

Werbung
Livenet Service
Werbung