Jeden Tag wird ein Mädchen entführt
Es war ein Bild des Schreckens, das sich dem Schweizer Exil-Kopten Medhat Klada und seinem Begleiter, dem freien Journalisten Daniel Gerber, in der St. Mina-Kirche in Kairo bot. Nachdem sie sich durch eine Menschenansammlung und Militärs gearbeitet hatten, standen sie auf dem Schauplatz eines Massakers. Daniel Gerber beschreibt die Szenerie: «Je näher wir dem Eingang der Kirche kommen, desto lauter dringt ein schmerzvolles Wehklagen an unsere Ohren ... Noch immer scheinen die Mauern die Hitze des nächtlichen Feuers in den Saal im Erdgeschoss abzugeben. Die Überreste der Bänke sind bereits in eine Ecke geräumt ... Weinende Menschen irren durch die Trümmer.» Wenige Stunden zuvor hatte an diesem Ort eine wütende Horde moslemischer Extremisten gewütet - von Anwohnern geduldet und von der Polizei ignoriert. Und das nur, weil hier eine Frau Zuflucht gesucht hatte, die vom Christentum zum Islam konvertiert war. Ihr Ehemann hatte sie misshandelt, und so wandte sie sich in ihrer Not wieder an die Kirche. Traurige Bilanz des Übergriffs: 15 Tote und 230 Verletzte.
Die Revolution gestohlen
Der Arabische Frühling weckte die Hoffnung, dass solche Szenen bald der Vergangenheit angehören würden. Die Revolution hatte gut begonnen. Während einer gewissen Zeitspanne ergaben sich ungeahnte Freiheiten. Christen traten öffentlich auf der Strasse für ihre Rechte ein. «Der Umsturz war ursprünglich von jungen Ägyptern aus allen Schichten gemeinsam ausgegangen», erinnert sich Medhat Klada. Klada wohnt in Opfikon ZH und ist Geschäftsführer der koptischen Menschenrechtsorganisationen in Europa. «Dann kamen die radikalen Kräfte und haben die Revolution gestohlen.» Sie schafften es, das Militär auf ihre Seite zu bringen. Die darauffolgenden Wahlen gewannen die islamistische Muslimbruderschaft und die Salafisten. Laut Medhat Klada machten sie sich dabei massiven Betrugs schuldig. Er schätzt, dass etwa neun Millionen Stimmzettel gefälscht wurden. «Es gibt Menschen, die haben 20 verschiedene ID-Karten», sagt er.
Situation der Christen
«Schicksalstage am Fusse der Pyramiden» heisst das Buch, das Daniel Gerber in Zusammenarbeit mit Klada verfasst hat. Am Samstag stellten sie es in der Freien Evangelischen Gemeinde Bern einer Zuhörerschaft von etwa 30 Interessierten vor. Das Werk beschreibt die Situation der Kopten (Sammelbegriff für die ägyptischen Christen) seit Beginn der Aufstände. Medhat Klada verschaffte Daniel Gerber wichtige Informationen und Kontakte. Für ihre Recherchen besuchten sie gemeinsam verschiedene Gemeinden und Familien vor Ort.
Entführt und misshandelt
Eine davon ist die Familie von Mariem. Extremisten hatten das junge Mädchen entführt, eingesperrt und misshandelt, mit dem Ziel, sie zum Islam zu «bekehren». Vorfälle dieser Art haben seit dem Umsturz leider zugenommen. «Im Durchschnitt wird jeden Tag ein Mädchen entführt», sagt Daniel Gerber. Wenn diese sich der Gewalt fügen, wartet bald darauf die Zwangsheirat. Das Schlimme daran ist, dass die Behörden den Opfern kein Gehör schenken. Die Polizei sieht zu und verharmlost das Geschehen. Das habe sich unter der neuen Regierung in keiner Weise geändert. Mariem hatte aber Glück: Nach 35 Tagen kam sie durch eine Lösegeldzahlung frei.
Buch zum Thema:
Daniel Gerber: Schicksalstage am Fuße der Pyramiden - Sie nennen es den Arabischen Frühling
Datum: 22.03.2012
Autor: Christof Bauernfeind
Quelle: ideaSpektrum Schweiz