„Die Krise des Christentums ist möglicherweise eine Krise der Ausdrucksweise“

Kreuz

Religion fasziniert die Mehrheit der Menschen in der Schweiz weiterhin, doch ist seit den 60er Jahren ein tief greifender Wandel der religiösen Vorstellungen und Erfahrungen im Gange: Es wird nicht weniger, sondern anders geglaubt.

Der Lausanner Religionssoziologe Roland J. Campiche hat kürzlich eine ausführliche Studie über "Die zwei Gesichter der Religion" in der Schweiz veröffentlicht. Die Faszination für universale Religiosität ist das eine Gesicht, die "Entzauberung" institutioneller Religion das andere. – Valérie Bory sprach mit Campiche.

Valérie Bory: In Ihren Augen sorgt die institutionelle Religion für sozialen Zusammenhalt. Heute gibt es indessen kaum mehr diesen Zusammenhalt…
Roland J. Campiche:
Ich unterscheide bei den zwei "Gesichtern" der Religion den institutionellen Pol vom universalen Pol. "Institutionelle Religiosität" meint die überlieferte Religion, jene, die sich in die christliche Tradition einschreibt und heute eine Minderheit der Bevölkerung betrifft. Es ist eine Religion, die gewissen "Standards" gehorcht: Glaube an den Gott Jesus Christi, Besuch des Sonntagsgottesdienstes, Beachtung von Übergangsriten - Taufe, Kommunion, kirchliche Heirat, Bestattung -, Eingliederung in eine Gemeinschaft.

Jene, die dem "institutionellen" Pol angehören, praktizieren ihren Glauben. Diese Minderheit ist ein wichtiges Element bei der Weitergabe des christlichen Glaubens in der Schweiz. Auch trägt die Religion zur Herstellung der schweizerischen Identität bei, zu einem Verständnis von "Bürgerschaft", und sie erzeugt Werte. In diesem Sinne bleibt Religion auch heute ein Ferment des sozialen Zusammenhalts.

Wie verhält es sich mit dem universalen Pol von Religion?
Dieser charakterisiert sich eher durch die Anerkennung einer höheren Existenz oder von Werten wie den Menschenrechten sowie auch des individuellen Gebetes – es ist ein Verständnis von Religion als Privatangelegenheit. Der Einzelne fühlt sich eher dem Kosmos verbunden. Das entspricht einer Art von "Globalisierung" der Religion.

Ihres Erachtens ist also die Religion nicht am Ende, wie manche prophezeit haben, sondern fasziniert im Gegenteil weiterhin eine grosse Mehrheit…
Es ist nicht die institutionelle Religion, die weiterhin fasziniert, sondern die Religion als solche. Wie aus den in der Schweiz durchgeführten Studien hervorgeht, erscheint Religion den Menschen wie ein Sinnvorrat, um schwierige Zeiten zu bestehen, aber auch als Ressource zur Humanisierung der Gesellschaft.

Die Interviewten in der Studie haben Antworten gegeben, die widersprüchlich erscheinen könnten. Doch es gibt eine hohe Erwartung gegenüber einer Religion, die nicht die Herrschaft oder die Macht sucht, sondern eher eine Religion des Typs Nichtregierungsorganisation darstellt. Eine Religion, welche die Gesellschaft humanisiert, im Sozialbereich eine Rolle spielt oder sich bei liberalistischen Exzessen zu Wort meldet.

Religion sei zur Privatangelegenheit geworden, stellen Sie fest. Steckt in Wahrheit nicht ein Desinteresse eines wachsenden Teils der Bevölkerung dahinter?
Nein, ich denke nicht. Tatsache ist zwar, dass eine relative Mehrheit der Bevölkerung viel stärker als noch vor zehn Jahren Religion als Privatsache ansieht. Gleichzeitig ist diese Mehrheit aber auch der Ansicht, dass die Kirchen in der Gesellschaft eine Anzahl von "Humanisierungsaufgaben" haben.

Was unterscheidet Ihres Erachtens die säkularisierte von einer atheistischen Gesellschaft?
Mit dem Begriff Säkularisierung hat man die verschiedensten Dinge bezeichnet. Er hat aber das Verdienst, den Blick auf die radikale Veränderung zu lenken, die sich in den 60er Jahren vollzogen hat. Es ist eine Veränderung, die Teil einer allgemeinen Bewegung des Misstrauens gegenüber den Institutionen, der Autorität, aber auch der Kirchen ist. Ich spreche deshalb lieber von den "zwei Gesichtern der Religion" statt von Säkularisierung, die bloss auf bereits formulierte Ideen verweist. Eine solche neue Erklärung der Rolle von Religion ist weniger durch Werturteile belastet, wie dies vorher der Fall gewesen ist.

Es ist nur eine kleine Minderheit, die jede Gottesexistenz verneint, und auch da würde ich lieber von Agnostizismus sprechen: Zum Ausdruck kommt eher Unschlüssigkeit als absolute Verweigerung. Was sagen Begriffe wie "Gnade", "Auferstehung" oder "Sünde" den heutigen Menschen? Nichts, denn dies ist nicht ihre Sprache. Die Krise des Christentums ist möglicherweise eher eine Krise der Ausdrucksweise, der Sprache als eine Glaubenskrise!

Die Bezugnahme auf das Christentum ist bei der jungen Generation stark im Abnehmen, stellen Sie fest.
Ja. 1989 nahm nur eine Minderheit der 16- bis 25-Jährigen auf das Christentum Bezug, und heute ist das nicht anders. Doch sind diese Personen zehn Jahre älter, so kehrt sich bei ihnen die Tendenz um. Es lässt sich daraus folgern, dass eine gewisse Rückkehr zum christlichen Glauben stattfindet, sobald die Menschen Familienpflichten haben.

Dieses Phänomen ist jenem in den USA vergleichbar, wo man von den "returnees" spricht - von Menschen also, die nach einer Periode, in welcher sie sich von ihrer Konfession entfernt haben, wieder zu dieser zurückkehren - im allgemeinen mit ihrem Ehepartner und ihren Kindern.

Sie sprechen in Ihrem Buch häufig auch von "religiöser Pluralität". Was verstehen Sie darunter?
Charakteristische Erscheinung unserer Zeit ist die religiöse Pluralität. Und dies in dem Sinne, dass jemand von Gott in verschiedenen Vokabeln sprechen wird - je nach den Umständen seiner Existenz: vom Gott Jesu Christi, von der Höheren Macht, vom ewigen Kreislauf. Und das ist Ausdruck einer Veränderung der religiösen Haltungen. Es können ebenso Katholiken wie Protestanten oder Konfessionslose sein, die von Höherer Macht sprechen, wenn sie Transzendenz meinen.

90 Prozent der Bevölkerung betet, wie Ihre Studien ergeben haben. Das ist erstaunlich, oder?
Das Gebet gehört zu den universalen "Standards" des Religiösen. Das mag tatsächlich erstaunen. Nur 10 Prozent der Bevölkerung geben an, niemals zu beten. Daraus lässt sich nun aber nicht schliessen, dass 90 Prozent der Bevölkerung täglich beten. Religion bleibt jedenfalls ein Sinnvorrat für schwierige Zeiten. Schaut man näher hin, so sieht man, dass das Gebet oft an das Leiden, die Krankheit gebunden ist, an menschliche Prüfungen also. Und das gilt für alle Generationen.

Ein nicht unbedeutender Teil jener 90 Prozent, die zu beten angeben, tut dies in der Familie. Etwa zwei Drittel der Mütter, die Kinder unter zwölf Jahren haben, beten abends mit ihren Kindern. Ein Teil jener Personen, die keine Verbindung zu einer Kirche mehr haben, fährt also mit dem Gebet fort. Das geht aus der Gesamtheit der Befragten hervor, ob sie nun einer Konfession angehören oder nicht. Dieser Anteil bleibt stabil. Was sich dabei verändert hat: Mehr Väter als noch vor zehn Jahren nehmen am Abendgebet mit ihren Kindern teil.

Roland J. Campiche
Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung.
Theologischer Verlag Zürich AG
395 Seiten, 48 Franken

Datum: 03.11.2004
Quelle: Kipa

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