Die Psychologie der Einsamkeit

Beziehungserfahrung als Kernelement von Psychotherapie

Luca Hersberger ist Psychiater und erlebt, wie Menschen Gottes unerschütterliche, bedingungslose Vaterliebe kennenlernen und über Beziehungen gesund werden.
Luca Hersberger (Bild: wisemed.ch)
Sein Buch «Heilsame Beziehungen»

Ist Einsamkeit bei Ihren Klienten ein Thema?
Luca Hersberger: Einsamkeit ist ein wichtiges Thema, das gerade in Zeiten von Corona und verordnetem Abstand nochmals an Gewicht gewonnen hat. Ich würde allerdings zwischen zwei grundsätzlichen Formen von Einsamkeit unterscheiden. Die einen sehnen sich nach mehr Beziehungen und fühlen sich einsam, weil tatsächlich niemand da ist. Die anderen – und ich würde schätzen, dies sind mindestens ebenso viele – fühlen sich einsam und allein, auch wenn sie eigentlich ein Gegenüber hätten. Meine Grundüberzeugung ist, dass wir für Beziehung geschaffen sind. Es ist nicht nur ein Wunsch, in Beziehung zu sein und sich verbunden zu fühlen. Es ist eines unserer emotionalen Grundbedürfnisse. Deswegen kann tatsächliche oder gefühlte Einsamkeit auch zu einer existenziellen Not führen. Unser Gehirn, so hat es ein Psychologieprofessor einmal treffend ausgedrückt, ist ein Beziehungsorgan. Wenn wir nicht in Beziehung sind, fehlt uns etwas Essenzielles.

Welche Symptome der Einsamkeit lassen sich aus Ihrer Sicht beschreiben?
Ich schätze, dass Einsamkeit selbst meist eher als Symptom zu verstehen ist für tiefer liegende wichtige Themen. Nicht immer ist dies natürlich im Sinne eines psychischen Leidens oder einer schwierigen Prägung zu verstehen. Aber wenn die Einsamkeit in meinen Gesprächen zum Thema wird, dann in der Regel deshalb, weil sie belastend ist. Sie geht einher mit anderen Themen wie beispielsweise Traurigkeit, Ängsten oder emotionalem Rückzug. 

Was tun wir, um Einsamkeit kurzfristig zu beheben?
Wir Menschen haben je nach Charakter, Prägung und verfügbaren Möglichkeiten ganz unterschiedliche Strategien, wie wir mit unangenehmen Empfindungen wie Einsamkeit
umgehen. Wir flüchten uns in Ablenkung, betäuben uns mit Suchtmitteln, verfangen uns in Zwängen oder Perfektionismus. Oder wir versuchen «um jeden Preis», irgendwie in Beziehung zu kommen. Der Effekt ist jeweils nur kurzfristig und damit nicht nachhaltig. Um weise Entscheidungen zu treffen, die langfristig hilfreich sind, ist das Verständnis der zugrunde liegenden Themen oft zielführend. Bei allen oben genannten kurzfristigen Strategien verstärken wir in der Regel unsere innere Not langfristig nur noch mehr. Unsere Lebenslügen bestätigen sich dadurch. Am Ende sind wir noch mehr gefangen in unseren Mustern. 

Sie sagen, dass heilsame Beziehungen sehr viel ändern können. Wie belegen Sie das?
Die Möglichkeit, korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen, ist eines der Kernelemente einer Psychotherapie. Die Forschung bestätigt die von vielen Autoren beschriebene Erfahrung, dass Veränderung durch Therapie geschehen kann, deren wichtigster Faktor die Beziehung ist. Die therapeutische Beziehung stimuliert Wachstum und (Um-)Organisation des Gehirns und fördert die Bildung und Plastizität von Nervenzellen aus bestimmten Stamm- oder Vorläuferzellen. Studien zeigen, dass durch Therapie sowohl auf Funktions- als auch auf Strukturebene im Gehirn Veränderungen geschehen. 

«Angst führt niemals in heilsame tiefe Beziehungen, sondern treibt wiederum in Bewältigungsstrategien, die uns voneinander distanzieren», so eine Ihrer Aussagen.
Gefühle sind grundsätzlich wichtig und hilfreich, weil sie uns zu den Bedürfnissen führen und uns damit zeigen, was wir brauchen. Die tief in uns eingeprägten Ängste beziehen sich jedoch oft auf alte Erfahrungen. Die Vergangenheit schleicht sich so auf gewisse Weise unbemerkt in die Gegenwart hinein. In der Therapie versuchen wir, diesen Ängsten auf die Spur zu kommen und herauszufinden, worum es im Grunde wirklich geht. Mit etwas Beharrlichkeit kommen wir meist zu den mit den Schemata verbundenen Ängsten wie beispielsweise der Angst, nicht zu genügen (Unzulänglichkeit), nicht wichtig zu sein (emotionale Vernachlässigung), nicht dazuzugehören (soziale Isolation) oder im Stich gelassen zu werden (Verlassenheit). 

Woher kommen solche Ängste?
Es ist mir immer wichtig zu verstehen, dass diese bindungsbezogenen Ängste aus der Perspektive eines beispielsweise vier- bis sechsjährigen Kindes völlig nachvollziehbar sind. Es kann für ein Kind tatsächlich lebensgefährlich sein, wenn es als ungenügend beurteilt und ausgestossen wird. Deswegen sind diese sozialen Motivatoren so stark. Wir streben danach, in Beziehung zu bleiben. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch dessen bewusst werden, dass wir als Erwachsene nicht daran sterben, wenn uns jemand ablehnt oder kritisiert, auch wenn sich dies tief im Innern als Todesgefahr anfühlen kann. 

«Himmlische Nachbeelterung» könnte aus der Einsamkeit helfen. Wie soll das vonstattengehen?
Ich staune immer wieder, wie Menschen, die als Kind denkbar ungünstige Umstände erlebt oder überlebt haben, in der Gottesbeziehung ganz heilsame Erfahrungen machen können. Manchmal ist es auch so, dass meine Sicht auf mich selbst, auf andere und eben auch auf Gott durch meine Schemata verzerrt wird und damit auch mein Gottesbild. Mein Selbst- und Menschenbild ist mehr von meiner Kindheit als von der unerschöpflichen, bedingungslosen Vaterliebe Gottes geprägt. Ich erlebe interessanterweise immer wieder gerade bei emotional sehr schwer verletzten Menschen mit Traumaerfahrungen, dass sie die Liebe Jesu auf ganz besondere Weise spüren und wahrnehmen können.

Gibt es vielleicht gerade auch fromme Lügen? Beispielsweise, dass «Jesus alleine» genügt und ich keine Menschen brauche?
Das kann tatsächlich passieren. Christen finden gute  Argumentationslinien, um auch vorher schon etablierte Muster weiter zu leben. Im christlichen «Jargon» gibt es einige Möglichkeiten, wie man es vermeiden kann, mit verletzten Gefühlen und herausfordernden Menschen in Nahkontakt zu kommen. Aber es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, die ganze Herzensnot in die Beziehung zu Gott zu bringen. Gleichzeitig bewegen wir uns aber immer in diesem Dreieck des Liebesgebots von Jesus, das da lautet: «Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.»

Wie kann die Gemeinde Jesu mithelfen, dass der Qualität von Beziehungen wieder echte Priorität eingeräumt wird?
Mir ist das biblische Bild von der Gemeinde als lebendigem Leib so wichtig! Wir dürfen einander ergänzen, tragen, wahrnehmen, trösten, beistehen, feiern, einander Zeugnis sein der Vaterliebe Gottes. Verletzte Menschen spüren sehr gut, ob jemand echt an einer Begegnung und Auseinandersetzung interessiert ist, oder ob dahinter eine christliche ‹To-do-Liste› läuft. So wie ich die Bibel verstehe, ist es unser Grundauftrag, miteinander in Beziehung zu sein. An unserer Liebe zueinander erkennen die Menschen, dass wir Jesu Jünger sind. Wir sollen einander so aufnehmen, wie Christus uns aufgenommen hat. Jesus nennt als höchstes Gebot das bereits zitierte Doppel- bzw. Dreifachgebot der Liebe. Gott scheint Beziehung wichtig zu sein. Ich freue mich über Gemeinden, in denen verletzte Herzen gesehen und getröstet werden, über soziales Engagement für weniger privilegierte Menschen. Ich freue mich, wenn echte Beziehung und Auseinandersetzung möglich sind.

Larry Crabb, wahrscheinlich der bekannteste amerikanische christliche Psychologe und Seelsorger, hat in einem seiner jüngeren Bücher über das Heilungspotenzial der Gemeinschaft geschrieben («Connecting»). Dort sagt er, dass wir als Christen auch in Gefahr sind, Menschen zu schnell zu Spezialisten, zu den Therapeuten, Seelsorgern, Ärzten zu schicken,wenn eigentlich der Grundauftrag an die Gemeinde ist, einander anzunehmen. 

Über Luca Hersberger

Luca Hersberger ist Oberarzt in der Klinik Sonnenhalde und mit Eva Sofia Hersberger-In der Smitten verheiratet. Sie haben vier Kinder und leiten mit anderen das Gemeinschaftsprojekt «Moosrain» in Riehen. Aus seiner praktischen Arbeit heraus erwuchs das Buch «Heilsame Beziehungen – Wenn christlicher Glaube und Schematherapie sich ergänzen». 

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin INSIST.

Zum Buch:
«Heilsame Beziehungen»

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Datum: 26.12.2020
Autor: Dorothea Gebauer
Quelle: Magazin INSIST

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