Zürcher Landeskirche im Umbruch

«Verunsicherung ist Segen»

Die Synode der Zürcher Reformierten hat im September einer Strukturreform im Grundsatz zugestimmt. Kleine und mittlere Kirchgemeinden sollen sich in den nächsten Jahren zusammenschliessen. Was manchen Angst macht, bezeichnet Pfarrer Willi Honegger aus Bauma als Segen.
Chance für Neuanfang: Willi Honegger in der Zürcher Kirchensynode.
Unten: Die Kirche zu den Leuten bringen: Landeskirchlicher Stand an der Winterthurer Familienmesse 2009

Im Gespräch mit idea Spektrum bezeichnet der Tösstaler Pfarrer, der seit 16 Jahren der Synode angehört, den Beschluss als positiven Paukenschlag. «Jetzt wird in unserer Kirche wieder etwas gestaltet. Freiräume für zukunftsgerichtete Projekte eröffnen sich.» Veränderungen liessen sich nicht mehr aufschieben, sagt Willi Honegger. «Das Eingeständnis unserer Not schenkt uns die Freiheit, ganz neu über den Inhalt zu reden.»

Der Anteil der Reformierten an der Zürcher Bevölkerung sinkt unter ein Drittel. Statt 675‘000 Mitgliedern (1967) zählt sie aktuell noch 475‘000; die Zahl der Kirchgemeinden blieb jedoch gleich. Nun fordert der Kirchenrat Gemeinden mit weniger als 5'000 Mitgliedern auf, sich mit der Frage übergemeindlicher Zusammenarbeit auseinanderzusetzen. Er favorisiert den Zusammenschluss; die Bündelung der Kräfte soll ein vielfältiges Angebot ermöglichen.

Grundauftrag nicht mehr erfüllt

Die selbstverständliche Zugehörigkeit zu einer Kirche sei schon vor längerer Zeit zerbrochen, urteilt Willi Honegger. «Jetzt wird dieser innere Abschied auch äusserlich sichtbar.» Die vom Kirchenrat angestrebte Strukturreform mache Sinn, weil Kirchgemeinden in den nächsten Jahren funktionsunfähig würden, aus Mangel an Behördenmitgliedern, Sozialdiakonen und Jugendarbeitern. «Kleine Gemeinden, Gemeinden in Städten und in der Agglomeration stossen an ihre Grenzen und sind zunehmend überfordert.»

«Kirche sucht Zuwendung Gottes»

Nach Ansicht Honeggers wagt es die Zürcher Kirche jetzt, «sich ihrer Not zu stellen. Der Blick auf die Wirklichkeit befreit. Eine Kirche, die ihre Armut sieht und zugibt, sucht wieder das Wesentliche, nämlich die Zuwendung Gottes in der Haltung ‚Hilf unserem Unglauben!‘.» Darauf liege eine Verheissung Gottes. Die Kirche stehe an der Schwelle einer neuen Erfahrung des Wirkens Gottes, ist der Vorsitzende der Evangelisch-kirchlichen Fraktion überzeugt. «Wir stehen inmitten eines tiefgreifenden Umbruchs, und zwar nicht allein die reformierte Kirche im Kanton Zürich – die ganze westliche Gesellschaft ist in geistlicher Not.» Die geistliche Ratlosigkeit umfasse übrigens auch die Freikirchen.

Zerfall im Traditionsabbruch

Die Gründe für die Krise ortet Honegger in der Kulturrevolution der 1960er Jahre. Nun seien ihre Früchte reif: «totale Individualisierung, Zersplitterung der Gesellschaft, Zerfall allgemein anerkannter Werte, Glaube ist Privatsache, Verlust der Gemeinschaft.» Seit dem 68er-Traditionsbruch habe eine grosse Sprachlosigkeit zum Glauben sich ausgebreitet. «In zwei Generationen führte der Bruch weg von der Heiligen Schrift, weg von der Bibelkenntnis und hin zu emotionalen Erlebnissen, die individuell zugeschnitten sind und damit in der grossen Gefahr stehen, im Laufe der Zeit zu verdampfen. Die Vertrautheit mit dem biblischen Wort ist fast vollständig abhanden gekommen.»

Patienten zusammenlegen?

Diese Entwicklung und der Mitgliederrückgang wegen Kinderarmut und Austritten haben dazu geführt, dass mancherorts «das Gemeindeleben praktisch zum Erliegen gekommen ist». Honegger bleibt nüchtern: «Man darf jetzt aber nicht drei Patienten zusammentun, in der Meinung, die würden dann gesunden. Persönlich bin ich überzeugt, dass wirkliches Leben dort wächst, wo eine Gemeinde auf Gottes Wort hört und Pfarrer und Kirchenpflege der Wirksamkeit des biblischen Wortes volles Vertrauen schenken.»

Generationen verbindende Kirche

Kirchgemeinden mit einem «funktionierenden, Generationen übergreifenden Gemeindeleben» hätten das Potential, kleinere  Gemeinden unter ihre Flügel zu nehmen. Kinderwagen vor der Kirche wie auch Rollatoren seien ein guter Gradmesser für die Lebendigkeit. Dass die Reformierten Kirchen schliessen bzw. abtreten, gehört für Honegger zum Prozess, namentlich in der Stadt Zürich. «Ich hätte übrigens kein Problem, dem ICF eine Kirche abzutreten.»

Postmodernes Interesse an authentischem Leben

Insgesamt geniesst die reformierte Kirche, davon ist Honegger überzeugt, immer noch «viel Vertrauen in der Bevölkerung». Der postmoderne Mensch sei an echtem Leben und gelebtem Glauben interessiert. «Er sucht nach Wahrhaftigkeit und Heimat. Trifft er dies an, ist er interessiert und will mehr erfahren. Findet er keine Authentizität, geht er weiter, theologische Richtung oder Denomination hin oder her.»

Datum: 22.10.2012
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: Livenet / idea Spektrum Schweiz

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